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Geist von Kreuth

Aus Historisches Lexikon Bayerns

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Das ehemalige Wildbad in Kreuth, 1970. (Foto: Bayerische Staatsbibliothek, Fotoarchiv Fruhstorfer)
Franz Josef Strauß (1915-1988) und Richard Stücklen (1916-2002), 1976. (Archiv der Hanns-Seidel-Stiftung, Fotograf: Josef Albert Slominski/Slomifoto)

von Alf Mintzel

Die Wendung "Geist von Kreuth" ist die umgangssprachliche Bezeichnung für den Kreuther Trennungsbeschluss. Sie spielt auf die politischen Motive und Vorgänge an, die am 18./19. November 1976 die CSU-Landesgruppe bewogen, auf ihrer Klausurtagung in Wildbad Kreuth (Lkr. Miesbach) die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU im Deutschen Bundestag aufzukündigen und im 8. Deutschen Bundestag eine selbständige Fraktion zu bilden. Nur wenige Wochen später wurde dieser Trennungsbeschluss im Einvernehmen zwischen CDU und CSU wieder aufgehoben, und die beiden Parteien kehrten zu ihrer Fraktionsgemeinschaft zurück.

Der Kreuther Trennungsbeschluss vom 18./19. November 1976

Auf ihrer Klausurtagung am 18./19. November 1976 in Wildbad Kreuth (Lkr. Miesbach) beschloss die CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, die Fraktionsgemeinschaft mit der Christlich Demokratischen Union (CDU) im Deutschen Bundestag aufzukündigen und im 8. Deutschen Bundestag eine selbständige Fraktion zu bilden. Der Beschluss wurde mit 30 gegen 18 Stimmen bei einer Enthaltung gefasst und wurde allgemein als tiefe Zäsur im traditionell schwierigen Bündnisverhältnis zwischen CDU und Christlich Sozialer Union (CSU) eingeschätzt. Aktueller Anlass für den einseitigen Trennungsbeschluss waren das Ergebnis und die Folgen der Bundestagswahl vom 3. Oktober 1976. In der Bundestagswahl konnte die CSU in Bayern 60,0 % der Stimmen auf sich vereinigen und damit 10,6 % des Gesamtergebnisses der Union (48,6 %) einbringen. Die CSU war 1976 auf dem höchsten Gipfel ihrer langjährigen Erfolgsgeschichte angelangt und konnte gegenüber der CDU mit ihrem Potenzial auftrumpfen. Obschon auch die CDU ihr Wahlergebnis von 35,2 auf 38,0 % verbessert hatte, und beide Unionsparteien mit insgesamt 243 Sitzen in der Lage waren, sich zur stärksten Fraktion im Bundestag zusammenzuschließen, hatte die sozialliberale Koalition mit einer Mehrheit von zehn Sitzen die Chance weiter zu regieren.

Reaktion des CDU-Bundesvorstandes und Zurücknahme - November/Dezember 1976

Der CDU-Bundesvorstand reagierte am 29. November 1976 mit einem Ultimatum. Er forderte die CSU-Führung auf, bis zum Tag der konstituierenden Sitzung des 8. Deutschen Bundestages die Fraktionsgemeinschaft wieder herzustellen, andernfalls sähe sich die CDU genötigt, in Bayern einen Landesverband der CDU zu gründen. Das Ultimatum und die demonstrative Wahl Helmut Kohls (CDU, 1930-2017, Ministerpräsident Rheinland-Pfalz 1969-1976, Bundeskanzler 1982-1998) zum Vorsitzenden der künftigen CDU-Bundestagsfraktion am 1. Dezember 1976 verfehlten nicht ihren Zweck. Die CSU-Führung begann umzudenken und einzulenken. In Bayern rief der Trennungsbeschluss vor allem an der fränkischen und schwäbischen CSU-Basis Unmut und Widerspruch hervor. Drei CSU-Bezirksverbände forderten, einen Sonderparteitag einzuberufen, weil befürchtet wurde, dass der Kreuther Beschluss und die Gründung eines CDU-Landesverbandes der bayerischen Mehrheits- und Regierungspartei sowie der Gesamtunion gravierend schaden könnten. Grenzen des Handlungsspielraumes der CSU-Führung wurden sichtbar. Am 9. Dezember 1976 trat eine Wende ein. Franz Josef Strauß (CSU, 1915-1988, Ministerpräsident 1978-1988) bot nach einer gemeinsamen Sitzung des CSU-Landesvorstandes und der CSU-Landesgruppe der Schwesterpartei neue Gespräche an. Der Trennungsbeschluss sei zwar nicht aufgehoben, aber "durch neue Vorschläge" überlagert worden. Am 12. Dezember 1976 vereinbarten die eingesetzten Verhandlungskommissionen der beiden Parteien, die Fraktionsgemeinschaft der CDU/CSU auf der Grundlage neuer Abmachungen fortzusetzen. In umfangreichen schriftlichen Vereinbarungen wurden neue Verfahren der Konfliktregelung im Sinne der schon 1972 von der CSU angemahnten "politischen Parität" beider Parteien festgelegt. Die CSU festigte mit den vertraglichen Regelungen ihre institutionelle Doppelrolle als selbständige Landespartei mit besonderem Bundescharakter und verstärkte ihren Einfluss als "Bundespartei" in der Fraktionsgemeinschaft. Sie bahnte mit den Vereinbarungen zugleich die Kanzlerkandidatur von Strauß im Bundestagswahlkampf 1980 an.

Forderung der CSU nach "politischer Parität" in der Fraktionsgemeinschaft

Schon nach der für die Union verlorenen Bundestagswahl 1972 hatte die CSU-Führung der Schwesterpartei vorgeworfen, nicht hart genug gegen das sozialliberale Bündnis und seine Politik gekämpft und durch die Ausklammerung der Deutschlandpolitik sowie durch falsche Anpassungskosmetik den Wahlsieg verspielt zu haben. Führungskreise der CDU bezichtigten nach der Bundestagswahl 1976 die CSU, gerade durch ihr Konfrontationskonzept das Gegenteil von dem bewirkt zu haben, was hätte erreicht werden sollen.

Bereits nach der Bundestagswahl 1972 war aus der CSU-Landesgruppe zu vernehmen gewesen, eine Auflösung der Fraktionsgemeinschaft könne nicht mehr ausgeschlossen werden. Richard Stücklen (CSU, 1916-2002, Präsident des Deutschen Bundestages 1979-1983), damaliger Vorsitzender der CSU-Landesgruppe, hatte hierzu am 1. Dezember 1972 in der Augsburger Allgemeinen ausgeführt: "Die Zusammenfassung von zwei im Rechtssinne voneinander unabhängigen Parteien in einer einzigen Parlamentsfraktion ist in der Tat etwas Außergewöhnliches. Weder gemeinsame Grundlagen noch der Wille zur bestmöglichen Zusammenarbeit machen eine Fraktionsgemeinschaft zum zwingenden Erfordernis. Es sind auch andere Organisationsformen denkbar, die eine optimale gemeinsame Arbeit gewährleisten können. Unter bestimmten Umständen kann die organisatorische Trennung der gemeinsamen Sache sogar nützlicher sein als die Aufrechterhaltung der Einheit. Die gemeinsame Fraktion ist ... keine Grundsatzfrage, sondern einzig und allein eine Frage der politischen Zweckmäßigkeit".

Folglich hatte die CSU-Landesgruppe schon nach der Bundestagswahl 1972 ihr Fraktionsbündnis mit der CDU neu definiert und sich die Anerkennung der "Gleichberechtigung beider Parteien", wenngleich "im Geiste voller gegenseitiger Solidarität", schriftlich verbriefen lassen. Die Vorgeschichte in den 1970er Jahren hatte also ihren Fixpunkt in strategischen und taktischen Fragen, wie man die seit 1969 regierende sozialliberale Koalition ablösen und wieder die Regierungsmacht zurückgewinnen konnte. Die CSU-Landesgruppe wollte mit dem Trennungsbeschluss im Bundestag ihre Handlungsspielräume erweitern und ihren Einfluss auf die Schwesterpartei verstärken. Treibender Motor war der Landesvorsitzende und Bundespolitiker Strauß, der mit dem designierten Fraktionsvorsitzenden der CDU, Helmut Kohl, in einem auch stark persönlich eingefärbten Rivalitätsverhältnis stand. Am 7. Juni 1975 hatte der kleine Parteitag der CSU mit überwältigender Mehrheit festgestellt, "dass der Parteivorsitzende Strauß die am besten geeignete Persönlichkeit zur ... Bestimmung und Gestaltung der Bundespolitik" sei. Kohl hatte also mit dem CSU-Stempel, nur zweitbester Kanzlerkandidat der Union zu sein, den Bundestagswahlkampf 1976 anführen müssen - eine Disqualifizierung, die sich auf den Kreuther Beschluss und auf die ihm folgenden Verhandlungen der Schwesterparteien auswirkte.

Die institutionelle und politische Doppelrolle der CSU - Die parteihistorische Vorgeschichte

Seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland hatte die bundespolitische Stoß- und Wirkungskraft der CSU im Deutschen Bundestag zu einem Gutteil aus ihrer institutionellen und politischen Doppelrolle als einer selbständigen bayerischen Landespartei mit besonderem "Bundescharakter" resultiert. Letzterer kam insbesondere in der Institutionalisierung der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag zum Ausdruck. Zu den parlamentarisch-organisatorischen Grundprinzipien der CSU-Landesgruppe hatte es seit 1949 gehört, sich nicht als unverbrüchlichen Bestandteil der CDU/CSU-Fraktionsgemeinschaft zu sehen, sondern als eigenständige parlamentarische Vertretung Bayerns in Bonn. Aus der langen Staatstradition Bayerns hatte sich die CSU, die in den 1960er Jahren zur "geborenen" bayerischen Mehrheits- und Regierungspartei aufgestiegen war, einen historisch begründeten staatsbayerischen Anspruch auf Mitsprache und Mitgestaltung der deutschen und europäischen Politik zugesprochen und aus dieser Sicht eines historischen Gestaltungsauftrages danach getrachtet, den Anspruch auch instrumentell abzusichern. Die CSU-Führung hatte es sich von Anfang an vorbehalten, jeweils zu Beginn einer Legislaturperiode autonom über die Fortsetzung ihrer Arbeit in der Fraktionsgemeinschaft neu zu beschließen. Voraussetzung blieb allerdings die strikte Einhaltung des Gebietskartells, wonach CDU und CSU "in keinem Bundesland miteinander im Wettbewerb stehen dürfen". Bis zum Jahre 1976 war allerdings kein förmlicher Beschluss über das faktisch bestehende Gebietskartell gefasst worden. Die Einhaltung der organisationspolitischen Abgrenzung hatte sich nach 1946/47, nach den heftigen Auseinandersetzungen über die geplante Bildung einer "Reichsunion" und einer Berliner Reichsgeschäftsstelle, im Rahmen der weiteren Entwicklungen aus der gegenseitigen Respektierung der jeweiligen politischen "Gebietshoheit" ergeben. Erst mit den Vereinbarungen zwischen CDU und CSU vom 12. Dezember 1976 wurde das Gebietskartell vertraglich zementiert: "Beide Unionsparteien stimmen darin überein, daß dieser [bundesweite Anspruch] nach der bisherigen geographischen Einteilung von der jeweils anderen Unionspartei ausgeübt wird." Damit waren auch Drohungen aus der CDU vom Tisch, einen Landesverband in Bayern zu etablieren.

Spannungen in der "kooperativen Konkurrenz"

Die CSU-Landesgruppe nahm im Deutschen Bundestag nach ihrem Selbstverständnis in der "kooperativen Konkurrenz" mit der CDU eine politisch-strategische Schlüsselstellung ein. Die besondere institutionelle Konstruktion bot der CSU-Landesgruppe einen instrumentellen Hebel, sich in politisch programmatischen Grundsatzfragen, in Fragen des politischen Kurses und in bestimmten Politikfeldern "eigensinnig" und "widerspenstig" abzugrenzen und, wie es im Sprachgebrauch der CSU-Führung hieß, "besondere bayerische Akzente" zu setzen. Dies galt in den 1960er und 1970er Jahren vor allem für die Außen- und Sicherheitspolitik sowie für die Deutschlandpolitik.

Aufkleber der 4. Partei. (Archiv der Hanns-Seidel-Stiftung)

Das in der Sonderstellung der CSU angelegte Spannungsverhältnis zwischen CSU und CDU war schon vor dem Kreuther Trennungsbeschluss wiederholt stark belastet worden. Parteiautonomie, triumphale Wahlerfolge in Bayern und parlamentarischer Sonderstatus ermöglichten es dem ehemaligen Landesvorsitzenden und Bundespolitiker Strauß und seinen Mitstreitern wiederholt, in der Bestimmung und Gestaltung der Bundespolitik zu für beide Unionsparteien strapaziösen Attacken anzusetzen. Dazu hatten auch Planspiele und Drohungen gehört, auf westdeutscher Ebene eine "Vierte Partei" zu gründen oder zu unterstützen. Der Kreuther Beschluss war in der Reihe solcher Attacken das schärfste Mittel, das sich später in anderen politischen Konstellationen kein zweites Mal anwenden ließ. Der "Geist von Kreuth" wirkte jedoch in manchen rhetorischen Schärfen und in expansiven Planspielen höchster CSU-Führungskreise bis in die Zeit der großen politischen Wende in Europa und Deutschland nach.

Kein zweites Kreuth

Mit der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten veränderten sich seit 1990/91 die Rahmenbedingungen für das parteipolitische Kräftespiel. Die neuen Gewichte und Parameter betrafen insbesondere die CSU. Die der CDU abgetrotzte "politische Parität" wurde durch das neue gesamtdeutsche Gewicht der CDU faktisch außer Kraft gesetzt. Die "Bundespartei" CSU musste nach der neuen gesamtdeutschen Arithmetik im Bundesrat, im Bundesparlament und in der Bundesversammlung Gewichtsverluste hinnehmen. In ihrem Stammland Bayern ging sie turbulenten Zeiten entgegen. Die CSU behauptete zwar auch in Berlin ihre institutionelle und politische Sonderstellung, zu einem zweiten Kreuther Beschluss hätte ihr aber die politische Kraft gefehlt. Ein weiterer Trennungsbeschluss hätte ihr überdies selbst in ihrem Stammland Bayern existenziell schwer geschadet. "Der Geist von Kreuth" ist längst zu einer historischen Chimäre geworden. Im Spannungsverhältnis zwischen CSU und CDU wird er nur noch in Reminiszenzen beschworen. Beide Unionsparteien haben gelernt, dass sie nur in einer Fraktionsgemeinschaft den für beide Teile organisatorisch, machtpolitisch und inhaltspolitisch größten Nutzen ziehen können.

Dokumente

Literatur

  • Gerhard Hopp/Martin Sebaldt/Benjamin Zeitler, Die CSU. Strukturwandel, Modernisierung und Herausforderungen einer Volkspartei, Wiesbaden 2010.
  • Andreas Kießling, Die CSU. Machterhalt und Machterneuerung, Wiesbaden 2004.
  • Alf Mintzel, Der Fraktionszusammenschluss nach Kreuth: Ende einer Entwicklung?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1/1977, 58-76.
  • Alf Mintzel, Die Christlich Soziale Union in Bayern, in: Alf Mintzel/Heinrich Oberreuter (Hg.), Parteien in der Bundesrepublik Deutschland (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung 282), Bonn 2. Auflage 1992, 217-265.
  • Alf Mintzel, Die CSU-Hegemonie in Bayern. Strategie und Erfolg, Gewinner und Verlierer, Passau 1998.
  • Alf Mintzel, Geschichte der CSU. Ein Überblick, Opladen 1977.
  • Günter Müchler, CDU/CSU. Das schwierige Bündnis, München 1976.
  • Thomas Schlemmer, Aufbruch, Krise und Erneuerung. Die Christlich-Soziale Union 1945 bis 1955, München 1998.

Externe Links

Kreuther Trennungsbeschluss, Kreuther Geist, Vierte Partei

Empfohlene Zitierweise

Alf Mintzel, Geist von Kreuth, publiziert am 05.11.2012; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Geist_von_Kreuth (29.03.2024)