• Versionsgeschichte

Volksmusikpflege

Aus Historisches Lexikon Bayerns

Kiem Pauli (eigtl. Emanuel Kiem, 1882-1960) an der Zither, die im 19. Jahrhundert zu einem der prägenden Instrumente der Volksmusik wurde. Foto Georg Fruhstorfer (1915-2003), Wildbad Kreuth (Lkr. Miesbach) 1950. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv fruh-00894)

von Manfred Seifert

Die Volksmusikpflege in Bayern ist eine Lied, Musik und Tanz betreffende Bewegung ideellen Charakters, die sich ab ca. 1930 im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend entfaltete. Ihr Ziel ist es, traditionelle Formen regionaler Popularmusik und damit verwandte Phänomene zu bewahren und weiter zu entwickeln. Sie stützt sich auf verschiedene Leitfiguren und Institutionen. Im Übrigen tritt sie jedoch als weithin nicht organisierte und schwach institutionalisierte Laienaktivität im Freizeitbereich auf. Aufgrund ihres ausgeprägten audiovisuellen Heimatbezuges stellt sie nicht nur ein Identitätsangebot mit relativ hoher Breitenwirkung dar, sie ist auch attraktiv als wirtschaftlich und kulturpolitisch relevante Größe.

Der Volksmusikbegriff

Damit musikalische Formen (Lied, Musik, Tanz) in der Pflegeszene als Volksmusik anerkannt werden, müssen sie spezifischen Auswahlkriterien entsprechen. Von Vorrang sind dabei stilistische Momente. Dominant ist bis zur Gegenwart eine Auffassung, die aus der Gründerzeit der Volksmusiksammlung und –forschung in Deutschland an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert stammt (Johann Gottfried Herder, 1744-1803). Für sie sind drei Kennzeichen wichtig: hohes Alter, allgemeine Verbreitung und Schönheit. Wegen ihrer wertenden Auswahlstrategie wird sie als essentialistisch-normativer Ansatz bezeichnet. Hierzu haben sich im Laufe der Zeit verschiedene Varianten ausgeprägt.

In der bayerischen Volksmusikpflege konnte zu dieser Auffassung bislang lediglich der strukturfunktionale Ansatz in ernsthafte Konkurrenz treten. Er geht zurück auf den Volksliedforscher Ernst Klusen (1909-1988). Musikalische Äußerungen, die einen primären Gruppenbezug aufweisen und dabei als Gebrauchsgut verwendet werden, gelten hier als Volkslied bzw. Volksmusik. Dieser Ansatz fand ab Mitte der 1970er Jahre Aufnahme in der bayerischen Volksmusikpflege und hat seither wesentlich zur Binnengliederung der Pflegeszene in unterschiedliche Milieus beigetragen.

Unabhängig hiervon konzentrieren sich im Unterschied zur außerbayerischen Volksmusikpflege die bayerische wie die österreichische Volksmusikpflege bis heute mehrheitlich auf regionale Musikformen. Das Phänomen der Volksmusikpflege gibt es grundsätzlich weltweit als eine Erscheinung, die in der Regel mit der gesellschaftlichen Modernisierung einhergeht. Neben einer Konzentration auf regionales Überlieferungsgut gab und gibt es in Bayern ebenso wie auch in anderen Teilen Deutschlands, Europas und der Welt nicht regionalbezogene Pflegeansätze, die entweder mit nationalkulturellem Focus, unter gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten (wie zum Beispiel in den ehemaligen Ostblockstaaten) oder unter vorrangig stilistischen Kriterien ausgewähltes Lied- und Musikgut als Volksmusik kanonisieren (vergleichbar der deutschen Jugendbewegung zu Anfang des 20. Jahrhunderts).

Anfänge der Volksmusikpflege in Bayern

Herzog Max in Bayern (1808-1888) zählt zu den wichtigsten Förderern der Volksmusik in Bayern. Der "Zither-Maxl", wie er wegen seiner Vorliebe für die Zither auch genannt wurde, machte die Zither in den besseren Gesellschaftskreisen salonfähig. Er trat nicht nur als enthusiastischer Spieler auf, sondern komponierte auf das Instrument abgestimmte Stücke. (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, BayHStA, GHA, Wittelsbacher Bildersammlung, Herzog Maximilian in Bayern 1/4)

Ein wesentlicher Antrieb zur Pflege von Volksmusik ging in Bayern wie in anderen Teilen Deutschlands von einer naturromantischen Interpretation aus, die nur eine der natürlichen Lebensform des vorindustriellen Bauerntums entspringende Kultur als "wahr" und "echt" erachtet. Abgesehen von einzelnen unsystematischen Vorläufern (Haus Wittelsbach, Mitte 19. Jahrhundert) entwickelte sich in Bayern ein konsequenter Pflegeansatz erst zum Ende der 1920er Jahre, nachdem der Musikant Emanuel Kiem (genannt: Kiem Pauli, 1882-1960) über den Schriftsteller Ludwig Thoma (1867-1921) um 1919 mit dem Gedankengut der seit Ende des 19. Jahrhunderts bestehenden österreichischen Volksliedbewegung in Berührung kam. Im Jahr 1930 organisierte Kiem zusammen mit dem Musikwissenschaftler Prof. Kurt Huber (1893-1943) in Egern am Tegernsee das erste oberbayerische Preissingen, das vom Rundfunk in ganz Bayern übertragen wurde.

Sebastian "Wastl" Fanderl (1915-1991) bei der Eröffnung der Ausstellung "Volksmusik in Bayern" im Mai 1985 im Allgemeinen Lesesaal der Bayerischen Staatsbibliothek. Wastl Fanderl, ursprünglich Friseur und Bader, wurde zu einer der führenden Gestalten der Volksmusik und Volksmusikpflege in Bayern. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv port-032295)

Von da ab wurde Kiem zur ersten weit über Oberbayern hinaus respektierten Leitfigur der bayerischen Volksmusikpflege. In den 1930er Jahren traten neben österreichischen Einflüssen (Josef Pommer [1845-1918], Tobias Reiser [1907-1974] und andere) weitere Persönlichkeiten hervor. Exemplarisch seien genannt Wastl Fanderl (1915-1991), Annette Thoma (1886-1974), Erna Schützenberger (1892-1975), Paul Friedl (1902-1989). In dieser Zeit floss als zweiter prägender Einfluss die deutsche Jugendbewegung mit ihren Prinzipien der Kulturarbeit ein.

Volksmusikpflege im Nationalsozialismus

Die Zeit der NS-Herrschaft schuf auch für die bayerische Volksmusikpflege besonders exponierte Bedingungen. Zwischen 1933 und 1945 erfolgte die bislang umfassendste Instrumentalisierung der Volksmusikpflege für politische Absichten. Über Gesetze, staatliche und parteiamtliche Institutionen (Reichsmusikkammer, Deutsche Arbeitsfront, Kampfbund für deutsche Kultur und andere) geschahen massive politische Einflussnahmen auf das musikalische Material und seine Aufführungspraxis. Ideologisch erfolgte eine Neukonzeption der musikalischen Volkskultur gemäß der NS-Gemeinschaftsideologie, ihrer antiklerikalen Haltung und der völkischen Überzeugung von einem rassisch gebundenen Kulturschaffen. Gemäß dieser Programmatik bestand ein intensives Interesse an Neuschöpfungen von parteikonformen Liedern, dem viele Produktionen nachkamen. Die traditionelle deutsche und regionale Volksmusik spielte bei der NS-Feiergestaltung und in den NS-Gliederungen eine deutlich untergeordnete Rolle. In der Schule und beim Bayerischen Rundfunk behielt sie etwas mehr Gewicht neben dem neuen Liedrepertoire der NS-Bewegung. Mundartlieder, "undeutsche" Instrumentalbesetzungen und Tanzformen wurden zensiert bzw. verboten.

Zu einem generellen Verbot regionaler Volksmusiktraditionen kam es jedoch nicht mehr. Vielmehr erhielt das Volkslied in offizieller Bearbeitung einen polyphonen Satz, da die Polyphonie im NS-nahen Musikschaffen als Abbild des musikalischen Deutschtums gehandelt wurde. Trotz solcher Bedingungen erlebte die bayerische Volksmusikpflege während der NS-Zeit eine wahre Blüte und zog dabei auch Volksmusikanten in ihren Bann, die nach 1945 zu Leitfiguren der Pflege arrivierten. Die Führungspersönlichkeiten der vor 1933 etablierten Volksmusikpflege standen allerdings den staatlichen Lenkungsmaßnahmen mehrheitlich distanziert gegenüber.

Weiterentwicklung ab 1945

Kurt Becher. (Bayerischer Landesverein für Heimatpflege)

Nach 1945 entfalteten die vor 1933 eingeleiteten Pflegeimpulse zunehmende Breitenwirkung, die nun auch immer mehr die instrumentale Volksmusik sowie den nicht vereinsgebundenen offenen Volkstanz (u. a. mit Georg von Kaufmann [1907-1972]) einschloss. Mit Kurt Becher (1914-1996) etablierte sich ab 1963/64 der Bayerische Landesverein für Heimatpflege als wichtige Pflegeinstitution, deren Pflegestil sich bis zur Gegenwart zunehmend am strukturfunktionalen Ansatz ausrichtet und dabei konsequent auf eine erlebnisorientierte Vermittlung setzt.

Personen und Institutionen

Erwin Zachmeier. (Bayerischer Landesverein für Heimatpflege)

Neben den bereits erwähnten Initiativpersonen und Institutionen sind insbesondere die beim Bezirk Oberbayern seit 1973 installierten Volksmusikpfleger (1973-1981 Wastl Fanderl, 1981-1996 Wolfi Scheck [1943-1996], seit 1996 Ernst Schusser) zu nennen. Für Franken war ab Ende der 1960er Jahre Erwin Zachmeier (1928-1991, Bayerischer Landesverein für Heimatpflege) prägend. In den drei fränkischen Bezirken wirkt die Arbeitsgemeinschaft Fränkische Volksmusik (seit 1977-1979). In Schwaben, wo es bereits 1965-1967 mit Michael Bredl (1915-1999) vorübergehend einen hauptamtlichen Volksmusikpfleger gab, beschäftigt der Bezirk in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Landesverein für Heimatpflege seit 1990 (Anfänge ab 1979) einen eigenen Volksmusikpfleger.

Institutionell fußt die bayerische Volksmusikpflege während der letzten Jahrzehnte nicht nur auf eigenen Strukturen (zu den bereits erwähnten viele private und ehrenamtliche Aktivisten, Vereine, Förderkreise). Maßgeblich sind - in wechselnder Gewichtung - auch die Trachtenbewegung, der Zithermusikbund, das Laienchorwesen sowie kommunale Musikschulen, die Berufsfachschulen für Musik, das Richard-Strauss-Konservatorium in München, und schließlich ganz wesentlich das Engagement der Medien (Bayerischer Rundfunk, Bayerisches Fernsehen). Mit der Sänger- und Musikantenzeitung existiert seit 1958 ein über Bayern ausstrahlendes Printmedium der Volksmusikpflege, dem im Laufe der Jahrzehnte diverse Periodika mit regionaler und/oder institutioneller Ausrichtung folgten.

Wechselnde Orientierungen, differenzierende Programmatiken

Seit ihren Anfängen ist die Suche nach einem Ausgleich für die Zumutungen der gesellschaftlichen Modernisierung eine entscheidende Motivation für Volksmusikpflege. Insofern dient sie - zum Teil bis heute - der Kompensation von Rationalisierungs- und Bürokratisierungsprozessen sowie von Auflösungstendenzen dichter sozialer Milieus.

Die anfängliche Konzentration des Pflegeinteresses auf Oberbayern und Österreich wirkt ebenfalls bis heute nach. In den anderen bayerischen Bezirken wurde diese Ausrichtung vielfach zunächst übernommen, eigene Wege waren eher die Ausnahme (etwa Paul Friedl [1902-1989] im Bayerischen Wald, Wettbewerb "Zwiesler Fink"). Auch hier wandte man sich spätestens ab den 1950er Jahren intensiver den regionalen Formen und Stilen zu.

Zudem gliedert sich die bayerische Pflegeszene seit den 1970er Jahren in verschiedene Milieus: - entlang von Instrumentalbesetzungen (Bläser, Streicher, Diatonische Harmonika, Bordunszene) und Veranstaltungstypen; - über die Bevorzugung regionaler Überlieferungsformen oder im Pflegekontext neu entwickelter Musikpraxis; - und insbesondere entsprechend weltanschaulicher und lebensstilbezogener Orientierungen, die in der Regel auf der Basis der verschiedenen Volksmusikbegriffe aufbauen (Kunstmusikideal, Alternativkultur-Konzept, funktionales Verständnis).

Vermittlungsformen und Veranstaltungstypen

Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich verschiedene Vermittlungsformen für gepflegte Volksmusik etabliert. Aus der Tradition der Jugendbewegung übernommen wurden Singwochen (ab 1937), Offene Singen und Wettbewerbe (Preissingen ab 1930). Bei letzteren hat sich neben den regionalbezogenen Ausrichtungen inzwischen auch eine überregionale Ausrichtung etabliert (zum Beispiel: Alpenländischer Volksmusikwettbewerb in Innsbruck). Nach österreichischem Vorbild entstanden Adventsingen (ab 1947), daran anschließend entwickelten sich Passionssingen und andere Veranstaltungen um das geistliche Volkslied.

Eine klassische Veranstaltungsform vor Publikum wurden Sänger- und Musikantentreffen, die zusammen mit Rundfunk- (ab 1924) und Fernsehaufzeichnungen (ab 1959) den Trend zur perfektionierten Darbietungsform von Volksmusik nachhaltig forcierten. Ungezwungene und kommunikativere Formen fand man – zum Teil in gesuchter Opposition hierzu – in Musikantenstammtischen (insbesondere seit den 1980er Jahren).

Der intellektuellen Reflexion dienen seit 1978 die Seminare für Volksmusikforschung und -pflege unter Federführung des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege. Vom Kreisbildungswerk Regen in Kooperation mit der Arbeitstagung der überregional tätigen, hauptamtlichen Volksmusikpfleger und -forscher initiiert, präsentiert das "Volksmusikspektakel Drumherum" (seit 1998) Volksmusik als Großveranstaltung im Gewand moderner Eventkultur.

Literatur

  • Wolfgang A. Mayer, Volksmusikforschung (Lied, Instrumentalmusik, Tanz), in: Edgar Harvolk (Hg.), Wege der Volkskunde in Bayern. Ein Handbuch, München/Würzburg 1987, 365-402.
  • Robert Münster (Red.), Volksmusik in Bayern. Ausgewählte Quellen und Dokumente aus 6 Jahrhunderten (Ausstellungskatalog der Bayerischen Staatsbibliothek München), München 1985.
  • Sänger- und Musikantenzeitung, Jahrgang 1 (1958) ff. (seit Jahrgang 47 [2004] unter dem Titel: Sänger und Musikanten. Zeitung für musikalische Volkskultur)
  • Volksmusikforschung und -pflege in Bayern. Berichte der Seminare 1978 ff., hg. v. Bayerischen Landesverein für Heimatpflege e.V., München 1980 ff.
  • Volksmusik in Bayern. Mitteilungsblatt der Volksmusikberatungsstellen des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege e.V., Jg. 1 (1984) ff.

Weiterführende Recherche

Externe Links

Verwandte Artikel

Empfohlene Zitierweise

Manfred Seifert, Volksmusikpflege, publiziert am 13.11.2006; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Volksmusikpflege> (20.04.2024)