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Volkskultur

Aus Historisches Lexikon Bayerns

Titelseite und Frontispiz der zwischen1860 und 1867 erschienen Landesbeschreibung Bavaria. Erstmals wurde in ihr eine umfassende naturwissenschaftliche, historische und auch volkskundliche Beschreibung aller Landesteile vorgenommen. Abb. aus: Bavaria. Landes- und Volkskunde des Königreichs Bayern, bearb. von einem Kreise bayer. Gelehrter. 1 Bd. München 1860. (Bayerische Staatsbibliothek Bavar. 196 af-1,1)
Der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich von Riehl (1823-1897) gilt als Begründer der wissenschaftlichen Volkskunde. Stich von August Weger (1823-1892). (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv port-019078)

von Walter Hartinger

Zentraler Begriff in der Volkskunde (bzw. Europäischen Ethnologie), der unterschiedlich aufgeladen im 19. und 20. Jahrhundert die Disziplin dominierte. Dabei wurde zwischen einer materiellen und geistigen Volkskultur unterschieden. Vor allem seit den 1970er Jahren wurde er in der Wissenschaft kritisch hinterfragt, blieb aber im Sprachgebrauch der breiten Öffentlichkeit wirkmächtig.

Volkskultur und Volkskunde

Mit Volkskultur wurde über lange Zeit hinweg der Gegenstand einer wissenschaftlichen Disziplin bezeichnet, die sich in Ansätzen um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zu bilden begann und die sich ab 1890 auch als Universitätsfach, der "Volkskunde", etablierte (derzeit meist firmierend unter "Europäische Ethnologie"). Gemeint waren Lebensformen, Wertevorstellungen, Sachgüter sowie Denk- und Erzählweisen der breiten "ungebildeten" ländlich-bäuerlichen Bevölkerung, gerne zusammengefasst unter "materielle" (z. B. Hausformen, Geräte) und "geistige" (z. B. Bräuche, Erzählgut, Rechtsvorstellungen, Glaubensformen) Volkskultur (Wiegelmann, "Materielle" und "Geistige" Volkskultur, 187-193). Seit den Zeiten der Romantik meint der Begriff vor allem Andersartigkeit und Opposition zur sog. Hochkultur.

Theoretische Annahmen und Vereinnahmung des Begriffs

Seit Beginn dieses bürgerlich-akademischen Interesses für diese Thematik waren mehr oder minder explizit theoretische Implikationen damit verbunden, die sich teilweise aus den spezifischen Bewusstseinslagen der Romantik erklären lassen: Volkskultur sei ein besonderer Wert (im Gegensatz zur "überfeinerten" Kultur der Eliten), sie sei "echt" und kraftvoll; sie sei Ergebnis eines kollektiven Schaffensprozesses; sie besitze Ursprünglichkeit, hohes Alter und weitgehende Unveränderlichkeit über die Zeiten hinweg. Namentlich auf dem Feld der Glaubensvorstellungen, der Ritualisierung gesellschaftlicher Prozesse (Sitten und Bräuche) und der gebundenen Erzählformen (Märchen und Sagen) reichten die Wurzeln angeblich häufig in prähistorische, jedenfalls vorchristliche (germanische) Zeiten.

Zurückweisung alter Hypothesen

Die wissenschaftliche Forschung innerhalb des Faches Volkskunde hat diese Hypothesen in einem mühsamen Prozess gegenüber der populärwissenschaftlichen Beschäftigung und gegenüber der teilweisen kulturell-politischen Vereinnahmung der Disziplin während der Zeit des Nationalsozialismus (im Sinne einer germanischen, prä- und antichristlichen Grundierung und durch Schaffung zahlreicher Professuren an deutschen Universitäten) zurückgewiesen. Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts, verstärkt nach dem Zweiten Weltkrieg wurde an vielen Beispielen gezeigt, dass sich Erscheinungen der Volkskultur auf individuelle Leistungen oder auf von oben (z. B. vom Staat, der Kirche oder von gesellschaftlichen Eliten) kommende Einflussnahmen ("Zentraldirigierung") zurückführen lassen. Die Forschungen belegten auch, dass diese Erscheinungen das Ergebnis eines durch soziale Differenzierung gesteuerten Nachahmungsprozesses sind ("sinkendes Kulturgut") und nicht einem diffus-kollektiven Schaffensprozess entspringen. Auch stellte sich heraus, dass von einer beständigen Weiterbildung der Volkskultur aufgrund wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ausgegangen werden muss und sich somit die Annahme einer sehr langen Dauer ("longue durée") in der Regel nicht bestätigen lässt (Moser, Volksbräuche).

Trotzdem wurde der Begriff "Volkskultur" als zentrale Kategorie innerhalb des Faches gerne weiterverwendet und findet sich im Titel zahlreicher Festschriften für runde Geburtstage von namhaften Volkskundlern (Jeggle, Volkskultur in der Moderne).

Distanzierung vom Begriff

Kritische Distanz zum Begriff "Volkskultur" nahm man innerhalb der volkskundlichen Forschung allmählich ein, als sich seit den 1970er Jahren fachfremde Historiker, namentlich solche, die sich den Prinzipien der "Alltagsgeschichte" verpflichtet fühlten, den Terminus mit den "alten" Konnotationen zu verwenden begannen: einheitliche, ursprüngliche, kollektive Kultur der breiten Masse - oppositionelle Kraft gegenüber den Eliten - Herkunft aus prähistorischen, vorchristlichen Wurzeln (exemplarisch: Muchembled, Kultur des Volks - Kultur der Eliten). Manche der Fachvertreter lehnen seitdem den Begriff wegen seiner irreführenden Implikationen ab, zusätzlich oft auch andere Wortverbindungen mit "Volk-" für Teilbereiche der Volkskultur wie: Volkslied, Volksmusik, Volksbrauch, Volksglauben (Brückner, Kultur und Volk). Andere plädieren für dessen Beibehaltung unter Klärung der je spezifischen Art von dessen Verständnis und Verwendung (Kramer, Volkskultur, 13-29). Aus dem allgemeinen Sprachgebrauch ist der Begriff ohnehin nicht mehr wegzudenken.

Literatur

  • Hermann Bausinger, Volkskultur in der technischen Welt, Frankfurt am Main/New York erweiterte Neuausgabe 2005.
  • Rolf-W. Brednich (Hg), Grundriss der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie, 3. Aufl. Berlin 2001.
  • Wolfgang Brückner, Kultur und Volk. Begriffe, Probleme, Ideengeschichte, Würzburg 2000.
  • Dieter Harmening (Hg.), Volkskultur - Geschichte - Region. Festschrift für Wolfgang Brückner zum 60. Geburtstag (Quellen und Forschungen zur europäischen Ethnologie 7), Würzburg 2. Auflage 1992.
  • Edgar Harvolk (Hg.), Wege der Volkskunde in Bayern. Ein Handbuch (Beiträge zur Volkstumsforschung 23), München 1987.
  • Utz Jeggle u. a. (Hg.), Volkskultur in der Moderne. Probleme und Perspektiven empirischer Kulturforschung. Festschrift für Hermann Bausinger zum 60. Geburtstag, Berlin 1986.
  • Karl-Sigismund Kramer, Volkskultur. Ein Beitrag zur Diskussion des Begriffes und seines Inhaltes, in: Dieter Harmening/Erich Wimmer (Hg.), Volkskultur - Geschichte - Region. Festschrift für Wolfgang Brückner zum 60. Geburtstag, Würzburg 1990, 13-29.
  • Hans Moser, Volksbräuche im geschichtlichen Wandel. Ergebnisse aus 50 Jahren volkskundlicher Quellenforschung (Bayerisches Nationalmuseum München. Forschungshefte 10), München 1985.
  • Robert Muchembled, Kultur des Volks - Kultur der Eliten. Die Geschichte einer erfolgreichen Verdrängung, Stuttgart 2. Auflage 1984.
  • Günter Wiegelmann, "Materielle" und "geistige" Volkskultur. Zu den Gliederungsprinzipien der Volkskunde, in: Ethnologia Europaea 68 (1970), 187-193.

Weiterführende Recherche

Empfohlene Zitierweise

Walter Hartinger, Volkskultur, publiziert am 24.01.2011; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Volkskultur> (28.03.2024)