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Tassilo-Liutpirc-Kelch

Aus Historisches Lexikon Bayerns

von Egon Wamers

Der Tassilo-Liutpirc-Kelch ist ein großer liturgischer Spendekelch aus vergoldetem und silberplattiertem sowie mit Glaseinlagen versehenem Kupfer. Durch Inschrift ist er als Stiftung des bairischen Herzogs Tassilo III. und seiner Frau Liutpirc ausgewiesen und wurde zwischen 770 und 780 in einer Hof- oder Klosterwerkstatt des Herzogs im Salzburger Raum gefertigt. Er ist vollflächig mit einem komplexen und bunten Bildprogramm aus Motiven und Ornamenten des italischen und insularen (irisch-angelsächsischen) Kunstkreises verziert. Aus kunsthistorischer Sicht ist er ein Schlüsselobjekt für die tassilonische Schatzkunst der 750/780er Jahre und wurde wegen seiner Inschrift als "Staatsdenkmal" des alten Baiern bezeichnet (Victor H. Elbern). Er befindet sich wahrscheinlich seit 777 oder erst seit dem Sturz Tassilos 788 im Benediktinerstift Kremsmünster (Oberösterreich), wo er seit 1696 als "Stifterbecher" bezeichnet wird. Wegen der gleichgewichtigen Nennung des Herzogspaars in der Stifterinschrift hält die jüngste Forschung (2019) die bisherige Bezeichnung „Tassilokelch“ für nicht mehr angemessen.

Einleitung

Im Benediktinerstift Kremsmünster (Oberösterreich) wird ein reich verzierter eucharistischer Kelch aufbewahrt, der nach einer Inschrift auf dem Fuß eine Stiftung des letzten bairischen Agilolfingerherzogs Tassilo III. (reg. 748–788) und seiner Frau Liutpirc, Tochter des letzten Langobardenkönigs Desiderius (reg. 757–774) ist: + TASSILO DVX FORTIS + LIVTPIRC VIRGA REGALIS (Tassilo, starker Herzog + Liutpirc, königlicher Spross). Die (kunst)historische Forschung vermutete zumeist, dass der Tassilo-Liutpirc-Kelch anlässlich der Gründung Kremsmünsters 777 durch den Herzog in Auftrag gegeben wurde. Das singuläre Kunstwerk gilt als Symbol des tassilonischen Baiern und als wichtigstes Zeugnis einer künstlerischen Verschmelzung italisch-langobardischer und insularer (irisch-angelsächsischer) Kunst in Salzburg, dem neuen kulturellen Zentrum Baierns. Hier wirkte der universal gebildete irische Abt und Bischof Virgil von 749 bis 784 mit seinen gelehrten Begleitern. Herstellung, Authentizität, ursprüngliche Funktion, kunsthistorische Zuschreibung (England oder Baiern) sowie Ikonografie des Kelches waren in der Forschung jedoch umstritten. Ein mehrjähriges interdisziplinäres Forschungsprojekt des Archäologischen Museums Frankfurt, des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz und des Stifts Kremsmünster (2015–2019) konnte manche der bislang ungeklärten Fragen zum Tassilo-Liutpirc-Kelch beantworten.

Schrift- und Bildzeugnisse

Gesichert ist der Kelch erstmals vom Mönch Berchtold (Bernardus Noricus) für 1325 im Stiftschatz Kremsmünster erwähnt ("vas … cupreum scelaturis"), wobei Bernardus annahm, dass er von Tassilo als Trinkmaß für Kremsmünster angefertigt worden sei. Denkbar ist aber seine Nennung schon im von Abt Sigmar (1013–1040) angelegten Inventar des Kirchenschatzes, die auf fol. 70v im Kremsmünsterer Codex Millenarius Minor Cim. 2 (2. Hälfte 9. Jahrhundert) nachgetragen wurde: "1 · [calix] aureus · cūpatena". Das ersetzt einen älteren, aber rasierten Text, von dem bislang nur "cupreus" statt "aureus" mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erschließbar ist. Was "cum patena" ersetzte, ist unbekannt; es scheint eine Formulierung der 3. Zeile zu kopieren. Wann Rasur und Textänderung erfolgten, ist ungeklärt. Jedenfalls belegt der Eintrag die Zugehörigkeit eines Kupferkelches zum liturgisch genutzten Gerät im frühen 11. Jahrhundert in Kremsmünster. In der Barockzeit (erstmals 1588 im Klosterinventar aufgeführt) diente er als profanes Trinkgefäß beim alljährlichen Gedenken an den Stifter des Klosters (11. Dezember: möglicher Todestag Tassilos III.). Die erste Nennung als "Stifter Becher" ist aus dem Jahr 1696 bekannt; spätestens seitdem war er mit einem silbervergoldeten Einsatz versehen. Die älteste ausführliche Beschreibung stammt aus dem Inventar-Nachtrag von 1753, die erste – und zugleich sorgfältige – Abbildung in natürlicher Größe im Kupferstich von Marian Pachmayr von 1777 anlässlich der 1000-Jahr-Feier des Stiftes. 1795 wurden umfängliche Restaurierungen, vorwiegend an den Silbereinlagen, vorgenommen. Erst seit 1857 wurde der Kelch als bedeutendes liturgisches Gefäß erkannt, dokumentiert und wissenschaftlich behandelt (bis Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem Franz Bock, Pankraz Stollenmayer, Ernst Heinrich Zimmermann, Günther Haseloff). Ende des Zweiten Weltkrieges wurde der Tassilo-Liutpirc-Kelch in einem Bergwerk im Salzkammergut in Sicherheit gebracht. Seit 1964 wird er im Kloster erneut liturgisch am Stiftertag und am Gründonnerstag sowie als Urne für die Abtwahl verwendet. In der zweiten Hälfte des 20. und im frühen 21. Jahrhunderts befasste sich die kunsthistorische und archäologische Forschung überwiegend mit stilkundlichen (Günther Haseloff; Kurt Holter; Volker Bierbrauer; Katja Žvanut) sowie ikonographischen (Victor H. Elbern; Egon Wamers) Fragen zum Kelch.

Material, Konstruktion, Technik

Der Tassilo-Liutpirc-Kelch. Ansicht mit Christus-Medaillon. In der Inschrift auf dem Fuß steht der Name Tassilo unter Christus. (Fotograf: Volker Iserhardt, Römisch-Germanisches Zentralmuseum Mainz)

Der knapp 26 cm hohe Kelch (heutige Maße: Höhe 25,4–25,8 cm; Cuppadurchmesser 15,6–15,96 cm; Fußdurchmesser 13,46–13,54 cm; Gewicht 2.372,56 g) besteht aus der Cuppa (Schale, ca. 1,6 ltr. Fassungsvermögen) mit unterem Vierkant-Nietzapfen und dem Nodus-Fuß-Teil, die aus reinem, bergfrischem, aber nicht lokalisiertem Kupfer getrieben sind. Der Kerbschnittdekor sowie die 36 runden Fassungen auf dem Nodus sind aus der Außenwandung ausgeschnitten worden. Danach erfolgten die Silberplattierung, die Niellierung (Einlagen von schwärzlichen Metallsulfiden) und die Feuervergoldung der Kupferoberflächen sowie das Fassen der grünen und blauen transluziden Glascabochons (gewölbte Glassteine), welche heute meistenteils verloren sind. Abschließend wurden Cuppa und Nodus-Fuß-Teil unverdrehbar miteinander verzapft (Niet von der Fußseite aus festgehämmert). Eine spätere De- und Neumontage ist ausgeschlossen. Die heutige Position ist ursprünglich, womit auch die seit 1777 belegte Stellung der Medaillons und der sonstigen Dekorelemente von Cuppa zu Nodus-Fuß die originale ist. Ein massiv gegossener und vergoldeter 24-perliger Kupferring überdeckt die Nahtstelle, die er fest umschloss, dabei die Cuppa stützend; heute ist er locker und beweglich. Dass der Kelch, am Ring gehalten, drehbar für die Konsekration von Wein war, wie vielfach vermutet wurde, ist somit – auch hinsichtlich des Gewichts von 4 kg einschließlich Füllung mit Wein – ausgeschlossen.

Die leichte Asymmetrie (Achsverschiebung; variierende Cuppa- und Fußdurchmesser) ist durch sekundäre Verformungen während der 1200-jährigen Nutzung erklärbar. Die historisch überlieferten Reparaturen (Austausch von Silbereinlagen) des späten 18. Jahrhunderts konnten bei Materialuntersuchungen bestätigt und genau lokalisiert werden. Cuppa und Fuß, wo sich Vergoldungsspritzer finden, waren innen nicht flächig vergoldet gewesen, weshalb mit einem ursprünglichen Cuppa-Einsatz aus edlem Metall für den liturgischen Gebrauch gerechnet werden muss, der heute verloren ist. Auffallend ist der künstlerische Qualitätsunterschied zwischen dem hochwertigen Kerbschnittdekor und der zum Teil unbeholfenen und fehlerhaften Niellozeichnung in den Silberflächen: Hier werden verschiedene Handwerker tätig gewesen sein. Von den Reparaturen, Verdrückungen, Einlagenverlusten und kleineren Beschädigungen abgesehen, befindet sich der Kelch heute im originalen und herausragend gut erhaltenen Zustand.

Dekor und stilhistorische Einordnung

Die Außenfläche des Kelches wird von einem leicht erhabenen Rahmenwerk aus niellierten Stegen gegliedert, das insgesamt 133 geometrische Felder bildet. Von diesen sind durch Silberplattierung, Niellozeichnung und Goldmulden folgende 19 Felder besonders betont: neun ovale Medaillonfelder (auf der Cuppa fünf: Christus zwischen den vier Evangelisten samt ihren Wesen; auf dem Fuß vier Heiligendarstellungen mit Namenkürzeln), auf dem Nodus neun rosettengefüllte Rautenfelder sowie auf dem umlaufenden Bodenfries die Stifterinschrift. Die umgebenden Kerbschnitt-Felder tragen Tier- und Pflanzenmotive insular-angelsächsischer Tradition sowie Flechtband- und Weinrankenmotive, wie sie von der Kunst vor allem des 8. Jahrhunderts aus Oberitalien und des irisch-angelsächsischen Bereichs bekannt sind. Auch die Inschrift ist paläographisch und durch interliterale Dekorelemente insular geprägt. Dagegen stehen die Morphologie des Gefäßes und seine Haupt-Zierfelder, die Figurenbilder, in byzantinisch-kontinentaler bzw. italisch-ravennatischer Tradition.

Tassilonische Schatzkunst

Christus-Darstellung im Psalter von Montpellier, fol. 2v (sog. Tassilo-Psalter), geschrieben und illuminiert im Kloster Mondsee, vor 788. Gesicht, Handhaltung, Goldmulden für Nimbus und Gewand, sowie Buchstaben-Begleitung stimmen weitgehend mit dem Kelch überein. (Gemeinfrei via Bibliotheque Interuniversitaire Montpellier, Ms. H409)

Der Tassilo-Liutpirc-Kelch zeigt engste Übereinstimmungen mit Werken der tassilonischen Buchmalerei des Salzburger Raumes (z. B. Psalter von Montpellier aus dem Kloster Mondsee) sowie mit hochwertigen sakralen Goldschmiedearbeiten (z. B. Rupertuskreuz von Bischofshofen, Älterer Lindauer Buchdeckel, Bursenreliquiar von Enger, Pyxiden von Fejø und Pettstadt, Reisekelch von Petőháza). Er stellt eines der Hauptwerke der Hofschule Herzog Tassilos III. dar, die ihr Zentrum im insular geprägten Salzburger Raum hatte und neben Buchmalerei und Schatzkunst auch Marmorskulptur und Wandmalerei der sakralen Architektur einschloss. Aus letzteren ragt die Marmorskulptur der Klosterkirche St. Johann von Müstair im Münstertal (Graubünden) heraus. Die von Herwig Wolfram erwogene Beteiligung Tassilos an der Gründung des Klosters (um 775) erfährt durch ein breites insulares Motivspektrum aus großen Flechtbandtieren sowie Ranken mit Triskele- und Löwenkopf-Motiven, die für die tassilonische Salzburger Hofkunst (z. B. Tassilo-Liutpirc-Kelch, Rupertuskreuz, Älterer Lindauer Buchdeckel) charakteristisch sind, sowie durch motiv- und materialidentische Parallelarbeiten aus dem Kloster Frauenchiemsee nachhaltige Bestätigung. Für die tassilonische Schatzkunst sind neben dem italisch-insularen Stil- und Motivmix Vielfarbigkeit und kombinationsreiche Goldschmiedetechniken kennzeichnend. Insulare Tier-Pflanzenmotive vom Typ des Tassilo-Liutpirc-Kelches kennt man zudem in großer Zahl von profanen Metallarbeiten für Waffen- und Reitausrüstung sowie von Schmuckstücken, die aus Bodenfunden stammen. Sie fanden sich nicht nur im Gebiet des bairischen Herzogtums, sondern mehrheitlich in weiten Teilen des karolingischen Machtbereichs der Rheinlande, der Nordseeküstenzone, in Nordfrankreich, Altsachsen und Ostfranken. Diese Funde aus fränkischem Gebiet lassen sich zum Teil mit der Requirierung der Schätze Tassilos und Deportationen im Zusammenhang mit dem Sturz Tassilos 788 erklären.

Bildprogramm

Der Tassilo-Liutpirc-Kelch. Abwicklung des texturierten 3D-Modells, zur Minimierung der Verzerrung separiert in vier Zonen. (Antje Cramer u. Guido Heinz, Römisch-Germanisches Zentralmuseum Mainz)

Im Querschnitt ist der Kelch strikt geometrisch aus Kreissegmenten konstruiert. Seine horizontale und vertikale Mitte liegt bei der Verzapfung von Cuppa mit Nodus-Fuß. Das den Kelch überziehende vielteilige Rahmenwerk verbindet Cuppa, Nodus und Fuß zu einer zusammengehörenden Bildstruktur. Aus den vergoldeten Kerbschnittflächen treten die ovalen silberplattierten Medaillons, fünf auf der Cuppa und vier auf dem Fuß, wie fensterartige Durchbrechungen hervor. Sie sind jeweils von Flechtband-/Weinranken-Rahmen umgeben, welche Cuppa und Fuß in einer Art Kettenscharnier umspannen. Christus mit Kodex in der Linken (missverstandene Korrektur des Handwerkers) und die Rechte im Sprech- oder Segensgestus erhoben ist von Architekturelementen und den apokalyptischen Buchstaben A und ω begleitet. In Verbindung mit den vier Evangelisten ist damit auf der Cuppa eine Maiestas Domini-Komposition wiedergegeben, wie sie u. a. von frühchristlichen Apsisprogrammen (z. B. S. Pudenziana, Rom, um 420; S. Apollinare in Classe, Ravenna, Mitte 6. Jh.) bekannt sind. Die von Namenkürzeln begleiteten vier Halbfiguren auf dem Fuß sind nur zum Teil sicher identifiziert (IB: Johannes Baptista; MT: Maria Theotokos-Gottesgebärerin); TM und PT könnten Lokalheilige sein. Ähnlich markant sind die neun silberplattierten Felder (jeweils mit sieben Brot-Symbolen?) im Rautenfries auf dem Nodus, eingebettet in insgesamt 27 (+ 1) Kerbschnitt-Felder mit Tier-Pflanzen-Flechtbandknoten-Motiven und markiert von 36 bunten Steineinlagen. Dieser Nodusfries trennt den Cuppafries vom Fußfries.

Seit frühchristlicher Zeit werden liturgische Geräte oft als Miniaturen heilsgeschichtlicher Architekturen (z. B. Tempel Salomos, Heiliges Grab, Neues Jerusalem, Lebensbrunnen) gestaltet, welche auf deren Funktion verweisen. Diese auch im 8. und 9. Jahrhundert beliebte Mode kann, analog den verzierten liturgischen Pyxiden der tassilonischen Hofschule, auch für den Tassilo-Liutpirc-Kelch erschlossen werden. Er stellt einen vermutlich zweigeschossigen Rundbau himmlischen Charakters dar, die Himmelsstadt, die aus "paradiesischem Baustoff" errichtet ist: dem Lebensbaum-Tier-Pflanzen-Ornament insularer Herkunft. In diesem Neuen Jerusalem der Offenbarung des Johannes sind, wie in den großen apokalyptischen Apsisbildern, Christus und die vier Evangelisten sowie Maria, Johannes der Täufer und zwei weitere Heilige präsent. Den Charakter der Himmelsstadt symbolisiert auch der abgesetzte Randfries der Cuppa mit den Spitzgiebel- und Arkadenfeldern. Diese sind in spätantiker und frühmittelalterlicher Kunst eine Bildchiffre für Stadtlandschaften, insbesondere die des Himmlischen Jerusalems. Das Motiv der Medaillon-Ketten, die Cuppa und Fuß umspannen, nimmt Bezug auf den Salomonischen Tempel (1 Kön 7,24), der eine Variante des Motivs Himmelsstadt war. Er galt als alttestamentliche "praefiguratio" Christi und der Kirchengemeinde und wurde zum Vorbild für bedeutende Hofkirchen.

Unten ruht der Kelch auf dem Inschriftenfries aus 36 mit Goldmulden gezeichneten Buchstaben. Kontrastierende silberplattierte und niellierte, edelsteinartige Zwischenräume verstärken die Wirkung. Durch die Stifterinschrift + TASSILO DVX FORTIS + LIVTPIRC VIRGA REGALIS präsentiert sich das Herzogspaar feierlich, förmlich und selbstbewusst als Fundament dieses Kelches, des allegorischen Bildnisses der Himmelsstadt – und damit die Erlangung des Himmelreiches erhoffend.

In den im Bildschmuck mehrfach wiederkehrenden Zahlen 6, 9, 10, 36 darf man eine zahlensymbolische Bedeutung vermuten.

Funktion

Nach Ikonographie und Größe muss der Tassilo-Liutpirc-Kelch im Vergleich mit den aus Ost- bis Westeuropa erhaltenen frühmittelalterlichen Kelchen als liturgischer Spendekelch gelten. Die mehrfach geäußerte Vorstellung eines "Hochzeitskelches", der anlässlich der Eheschließung Tassilos mit Liutpirc 763/764 geschaffen worden sei, ist ausgeschlossen. Sehr wahrscheinlich war er Teil eines liturgischen Gerätesatzes, der auch Patene, Pyxis und weiteres Gerät umfasste. Anlass der Stiftung dürfte die Ausstattung einer bedeutenden (Kloster-)Kirche gewesen sein, der sich das Herzogspaar verbunden fühlte.

Historische Bedeutung

Mit dem Sturz Tassilos 788 durch seinen Vetter Karl den Großen waren die Deportation der gesamten Herzogsfamilie und deren Inhaftierung in nordfränkischen Klöstern, die Requirierung des "Staatsschatzes" eine weitgehende Damnatio memoriae der langen glanzvollen, königsgleichen Regentschaft des Baiernfürsten (748/53–788) verbunden. Dazu gehörten zahlreiche Klostergründungen, Kirchenbauten, aufblühende Handschriftenproduktion, der Aufbau einer Hofschule mit Schatz- und Baukunst sowie Buchmalerei, aktive Kirchen- und Missionspolitik, systematischer Landesausbau sowie eine weitgehend friedliche Außenpolitik. Liutpirc, Tochter des Langobardenkönigs Desiderius (der schon 774 mit seiner Familie das gleiche Schicksal wie Tassilo erlitten hatte), spielte an der Seite des Herzogs – wohl nicht nur in der Klosterpolitik (Frauenchiemsee) – eine aktive Rolle, wie die Stifterinschrift auf dem Kelch von Kremsmünster zeigt. Durch die ebenso stolze wie fromme, urkundenhafte Titulatur wird der Kelch zu einem "Staatsdenkmal" (Victor H. Elbern 1989) der bairisch-österreichischen Frühgeschichte. Für die Schatzkunst der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts nimmt er eine Schlüsselstellung ein.

Ob der Kelch anlässlich der Gründung Kremsmünsters 777 in Auftrag gegeben und gestiftet wurde, ist nach der Quellenlage nicht gesichert. Die Materialarmut (vergoldetes, partiell silberplattiertes) Kupfer hat er mit dem monumentalen Rupertuskreuz von Bischofshofen gemein, wohl einem Initialwerk der tassilonischen Hofschule. Es spielt auf den Sieg Tassilos 772 über die Karantanen und deren anschließende Missionierung an und war vermutlich für den von Virgil 774 eingeweihten Rupertus-Petersdom in Salzburg, den angeblich größten Kirchenbau nördlich der Alpen, gedacht. Der Kelch könnte – als Teil eines liturgischen Geräteensembles – Stiftung des Herzogspaars für den Dom gewesen sein. Monumentalkreuz und Kelch waren vielleicht 788 vor der Schatz-Requirierung in die Grenzklöster Bischofshofen und Kremsmünster in Sicherheit gebracht worden.

Literatur

  • Volker Bierbrauer, Liturgische Gerätschaften aus Baiern und seinen Nachbarregionen in Spätantike und frühem Mittelalter, in: Die Bajuwaren. Von Severin bis Tassilo 488-788, Ausstellungskatlog Rosenheim-Mattsee 1988, 328-341.
  • Franz Bock, Der Tassilokelch nebst Leuchter zu Kremsmünster, in: Mittheilungen der k. k. Central-Kommission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale 2 (Wien 1857), 247–248.
  • Franz Bock/Winfried Zimmermann, Frühkarolingische Kirchengeräthe im Stifte Kremsmünster, in: Mittheilungen der k. k. Central-Kommission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale 4 (Wien 1859), 6–13.
  • Victor H. Elbern, Der eucharistische Kelch im frühen Mittelalter, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 17 (1963), 1-76, 117–188.
  • Victor H. Elbern, Zwischen England und Oberitalien. Die sog. insulare Kunstprovinz in Salzburg, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1989, 96–111.
  • Günther Haseloff, Der Tassilokelch (Münchner Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte 1), München 1951.
  • Günther Haseloff, Zum Stand der Forschung über den Tassilokelch, in: Heidelinde Jung/Franz C. Lipp (Hg.), Baiernzeit in Oberösterreich. Von Severin zu Tassilo. Das Land zwischen Inn und Enns vom Ausgang der Antike bis zum Ende des 8. Jahrhunderts, Linz 3. Auflage 1977, 221–236.
  • Kurt Holter, Kunstschätze der Gründungszeit, in: Die Anfänge des Klosters Kremsmünster, Linz 1978, 111–143, hier: 110–116.
  • Marian Pachmayr, Historico-chronologica series abbatum et religiosorum monasterii Cremifanensis, Steyr 1777.
  • Katrin Roth-Rubi, in Zusammenarbeit mit Hans Rudolf Sennhauser, Die frühe Marmorskulptur aus dem Kloster St. Johann in Müstair (Acta Müstair 5,1), Ostfildern 2015.
  • Pankraz Stollenmayer, Der Tassilokelch, in: Festschrift zum 400-jährigen Bestande des öffentlichen Obergymnasiums der Benediktiner zu Kremsmünster, Wels 1949, 1–109.
  • Egon Wamers, Pyxides imaginatae. Zur Ikonographie und Funktion karolingischer Silberbecher, in: Germania 69 (1991), 97-152.
  • Egon Wamers, Tassilo III. von Baiern oder Karl der Große? Zur Ikonographie und Programmatik des sogenannten Tassilokelch-Stils, in: Hans Rudolf Sennhauser (Hg.), Wandel und Konstanz zwischen Bodensee und Lombardei zur Zeit Karls des Grossen (Acta Müstair 3), Zürich 2013, 427–448.
  • Egon Wamers (Hg.) mit Beiträgen von Matthias Becher, Anja Cramer, Rüdiger Fuchs, Reinhard Gratz, Susanne Greiff, Martina Hartmann, Sonngard Hartmann, Wilfried Hartmann, Guido Heinz, Elisabeth Krebs, Stephan Patscher, Alexandra Pesch, P. Altman Pötsch, Renate Prochno-Schinkel, Katrin Roth-Rubi, Michael Ryan, Anton Scharer, Florian Ströbele, Egon Wamers, Herwig Wolfram, Der Tassilo-Liutpirc-Kelch im Stift Kremsmünster. Geschichte, Archäologie, Kunst (Schriften des Archäologischen Museums Frankfurt 32), Regensburg 2019.
  • Herwig Wolfram, Expansion und Integration. Rätien und andere Randgebiete des Karolingerreiches im Vergleich, in: H. R. Sennhauser (Hg.), Wandel und Konstanz zwischen Bodensee und Lombardei zur Zeit Karls des Grossen. Kloster St. Johann in Müstair und Churrätien (Acta Müstair, Kloster St. Johann, 3), Zürich 2013, 251–260.
  • Ernst Heinrich Zimmermann/Alois Riegl, Die spätrömische Kunstindustrie nach den Funden in Österreich-Ungarn. 2. Band: Das Kunstgewerbe des frühen Mittelalters auf der Grundlage des nachgelassenen Materials von Alois Riegel, Wien 1923.
  • Katja Žvanut, The Tassilo Chalice Style: problems of interpretation and definition, in: Hortus artium medievalium 8 (2002), 273–288.

Weiterführende Recherche

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Empfohlene Zitierweise

Egon Wamers, Tassilo-Liutpirc-Kelch, publiziert am 30.10.2020; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Tassilo-Liutpirc-Kelch> (28.3.2024)