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Sittlichkeitsprozesse (NS-Zeit)

Aus Historisches Lexikon Bayerns

von Thomas Forstner

Unter der nationalsozialistischen Herrschaft fand eine Reihe öffentlichkeitswirksamer Strafprozesse statt, in die katholische Welt- und Ordensgeistliche sowie Laienbrüder in besonderer Weise involviert waren. Den Beschuldigten wurden Vergehen gegen die Sittlichkeit (v. a. homosexuelle Handlungen) und der Missbrauch von Schutzbefohlenen vorgeworfen. Die Mehrzahl der Täter war geständig und wurde entsprechend der geltenden Strafrechtsbestimmungen verurteilt. Die Sittlichkeitsprozesse dienten der NS-Propaganda als probates Mittel, Geistliche als Staats- und Volksfeinde und Klöster als Horte des Sittenverfalls und der moralischen Verderbtheit anprangern zu können. Dahinter stand das Bestreben, das Verhältnis von Kirchenvolk und Klerus nachhaltig zu beschädigen und dadurch den Einfluss der Kirche auf die katholische Bevölkerung zu unterminieren. Nach 1945 schwanden Taten und Täter aus dem Gedächtnis, wohingegen kirchlicherseits vor allem die Erinnerung an die antiklerikale Propaganda der Nationalsozialisten wachgehalten wurde, die als Beleg für das widerständige Handeln der Kirche im NS-Staat angeführt wurde.

Anlass und Verlauf der Ermittlungen

Im Verlauf des Jahres 1935 kam es zu Ermittlungen gegen die Laienkongregation der Franziskanerbrüder in Waldbreitbach (Rheinland-Pfalz) wegen des Verdachts homosexueller Vergehen. Die Ermittlungen wurden bald auf weitere Laienkongregationen und Ordensgemeinschaften ausgedehnt. Im Zuge der Ermittlungen wurde Ende 1935 eine Sonderstaatsanwaltschaft in Koblenz (Rheinland-Pfalz) eingerichtet, die für Fälle in ganz Deutschland zuständig war. Die Ermittlungen gegen Priester und Ordensgeistliche wurden im Gegensatz zu jenen gegen die Laienbrüder jedoch nicht bei der Sonderstaatsanwaltschaft, sondern bei den lokalen Staatsanwaltschaften geführt.

Frühzeitig begann sich auf Ermittlerseite eine Parallelstruktur von Staatsanwaltschaft und Geheimer Staatspolizei (Gestapo) zu entwickeln, die divergierende Interessen verfolgten und unterschiedlich vorgingen. Während die Sonderstaatsanwaltschaft und das hinter ihr stehende Reichsjustizministerium meist mäßigend wirkte und sich weitgehend an rechtsstaatlichen Prinzipien orientierte, waren bei der Gestapo radikale Kräfte am Werk, deren Hauptbestreben darin lag, die Zahl der Angeklagten zu vermehren.

Erst ab 1937 wurde auch Bayern in größerem Umfang in die Untersuchungen der Gestapo einbezogen, die nun auch ohne Vorliegen von Verdachtsmomenten einzelne Gemeinschaften durchkämmte. Beispielsweise wurde im August 1937 ein Münchner Ordensgeistlicher nach Beschuldigungen durch einige Fürsorgezöglinge für einen Zeitraum von acht Monaten in sog. Schutzhaft genommen. Ein weiteres Beispiel findet sich in der Erzabtei St. Ottilien (Lkr. Landsberg am Lech) Ende 1937: nach zunächst ergebnislosen Untersuchungen wurde hier ebenso willkürlich ein beliebiger Pater in Schutzhaft genommen und verhört, um von ihm belastende Informationen zu erhalten; erst nach Monaten wurde er auf Intervention der Sonderstaatsanwaltschaft wieder entlassen. Fälle dieser Art waren typisch. Im Zusammenhang mit den Durchkämmungsaktionen kam es auch wiederholt zu willkürlichen Durchsuchungen der bischöflichen Ordinariate durch die Gestapo; im Münchner Ordinariat brachte man als Vorsichtsmaßnahmen belastende Aktenstücke an einem geheimen Ort unter, wo sie später vergessen wurden.

Die Vernehmungen wurden seitens der Gestapo oft mit unzulässigen Mitteln wie Drohungen oder Einschüchterungen geführt. Aussagen von Zeugen wurden für das Protokoll so umformuliert, dass sie Belastungscharakter erhielten. Oft wurde Schutzhaft angeordnet, obwohl diese auch nach nationalsozialistischer Gesetzgebung im Zuge der Strafverfolgung gar nicht angewandt werden durfte. Viele der Beschuldigungen erwiesen sich im weiteren Verlauf der Verfahren dann auch als haltlos.

Obwohl die nur nach Kirchenrecht strafbaren Zölibatsvergehen von Geistlichen an sich keinen Anlass für strafrechtliche Ermittlungen des Staates darstellten, war das Bemühen, Geistlichen sittliches Fehlverhalten nachzuweisen so weitgehend, dass die Gestapo in Bayern Ende 1937 die Polizeiämter anwies festzustellen, welche und wie viele Geistliche Alimente zu zahlen hätten.

Verlauf der gerichtlichen Verfahren

Welt- und Ordensgeistliche bildeten unter den Angeklagten reichsweit nur eine Minderheit. Die großen Prozesse richteten sich vorwiegend gegen Laienbrüder. Die Angeklagten waren fast ausnahmslos Männer, nachgewiesen sind im gesamten Deutschen Reich nur vier Verfahren, in denen Ordensfrauen angeklagt wurden.

Die eigentlichen Prozesse, die vor den Landgerichten geführt wurden, begannen im Mai 1936. Im Juli desselben Jahres kam es auf Weisung Adolf Hitlers (NSDAP, 1889–1945, Reichskanzler 1933–1945) mit Rücksicht auf die Olympischen Sommerspiele in Berlin und den spanischen Bürgerkrieg, die beide zu einer temporären Pazifizierung zwischen katholischer Kirche und NS-Staat geführt hatten, zu einer ersten Aussetzung der Verfahren. Im April 1937 wurden sie nach der Veröffentlichung der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ von Papst Pius XI. (1857–1939, Papst 1922–1939) temporär wieder aufgenommen. Die Enzyklika, welche die NS-Ideologie verurteilte, wurde vom NS-Regime als Kampfansage aufgefasst. Die Untersuchungshaft vieler Beschuldigter verlängerte sich durch diese Unterbrechung erheblich. Bereits Ende Juli 1937 wurde jedoch eine weitere Verhandlungssperre angeordnet.

Der radikale Kurswechsel scheint überraschend. Die Gründe für diese Selbstbeschränkung des Regimes sind nicht ganz klar, sie wurden jedoch von der historischen Forschung mit guten Argumenten in Hitlers außenpolitischen Plänen vermutet, die im Verlauf des Jahres 1937 mehr und mehr an Bedeutung gewannen und Geschlossenheit im Innern voraussetzten. Eine politische Beunruhigung der Bevölkerung durch eine Häufung von Verfahren sollte nun vermieden werden. Die neuerliche Sperre wurde bedingt erst Mitte 1939 wieder aufgehoben – jedes Verfahren musste nun vom Reichsjustizministerium per Einzelerlass freigegeben werden.

Insgesamt kam es zwischen Mai 1936 und Juli 1937 reichsweit zu rund 250 Strafverfahren. 170 Laienbrüder und 64 Welt- und Ordensgeistliche wurden nachweislich verurteilt. Die Gesamtzahl der Verfahren zwischen 1933 und 1945 ist unbekannt. Die Mehrzahl der Anklagen betraf homosexuelle Handlungen, zeitgenössisch als „widernatürliche Unzucht“ bezeichnet (§ 175 Reichsstrafgesetzbuch, RStGB), ein kleinerer Teil unzüchtige Handlungen mit Pflegebefohlenen (§ 174 RStGB) und unzüchtige Handlungen mit Minderjährigen unter 14 Jahren (§ 176 RStGB). Die Zahl der vorangegangenen Ermittlungsverfahren war hingegen wesentlich höher. Dies zeigt auch, dass ein Großteil der erhobenen Anschuldigungen sich als nicht haltbar erwies bzw. gerichtlich nicht verwertbar war.

Die Verhandlungen vor ordentlichen Gerichten verliefen nach Einschätzung zeitgenössischer kritischer Beobachter überwiegend sachlich und objektiv. Die Mehrzahl der Urteile stützte sich auf Geständnisse oder Teilgeständnisse der Angeklagten. Im Zweifelsfall wurde zugunsten des Angeklagten geurteilt. Das Strafmaß bewegte sich im seinerzeit üblichen Rahmen, in der Mehrzahl der Delikte betrug es zwischen einem und zwei Jahren Gefängnis. Von Seiten der Gerichte wurde eine Politisierung im Wesentlichen vermieden, jedoch erhielten insbesondere die großen spektakulären Verfahren durch auf Weisung von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (NSDAP, 1897–1945, Reichspropagandaminister 1933–1945) entsandte Zuhörergruppen stellenweise den Charakter von Schauprozessen.

Beurteilung der Delikte durch die Kirchenobrigkeit

In der sittlichen Beurteilung der Delikte herrschte zwischen NS-Regime und Kirchenobrigkeit Einmütigkeit. Die Kirche, namentlich die Bischöfe, verurteilten die Vergehen wiederholt öffentlich. In der Kundgebung der bayerischen Bischöfe zu den Sittlichkeitsprozessen von 1937 wurden „Verirrungen und Verfehlungen“ einzelner Kleriker „aufs bitterste“ beklagt und über die „Verräter“ das Verdikt verhängt, das Jesus über Judas gefällt haben soll: „Es wäre besser, er wäre nicht geboren.“ (Mt. 26,24; Akten Kardinal Faulhaber, Band 2, 343-346). Die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ bezeichnete die Täter als „Unkraut unter dem Weizen des Gottesreiches“. Eine Differenzierung zwischen einvernehmlichen homosexuellen Handlungen und Missbrauchsgeschehen erfolgte hierbei nicht.

Unabhängig von den konkreten Vorwürfen in den Sittlichkeitsprozessen sah sich die Kirche in ihrer Gesamtheit bzw. einzelne Kleriker als ausschließliches Opfer. Die mutmaßlichen oder tatsächlichen Opfer – etwa im Falle von Sexualvergehen mit Schutzbefohlenen und Minderjährigen - tauchen in den bischöflichen Stellungnahmen nicht auf.

Die Prozesse als Instrument der antikirchlichen Propaganda

Sexualdelikte im innerkirchlichen Bereich wurden mit größtmöglicher Diskretion behandelt, Tabuisierung und Geheimhaltung hatten oberste Priorität, der Schutz mutmaßlicher Missbrauchsopfer spielte hingegen keinerlei Rolle. Die Täter wurden, sofern es nicht zu Strafverfahren vor weltlichen Gerichten kam, durch innerkirchliche Buß- und Strafmaßnahmen sanktioniert und durch die Unterbringung in Priesterhäusern und den Einsatz auf abgelegenen Außenposten zumindest temporär ins gesellschaftliche und karrieremäßige Abseits gedrängt. Dies entsprach langjähriger kirchlicher Praxis. Vor 1933 war das Verhältnis zwischen staatlicher Justiz und Kirchenbehörden überwiegend kooperativ. Es gelang im Falle von Anklagen häufig öffentliches Aufsehen und damit ein – wie es im kirchlichen Sprachgebrauch genannt wurde – „Ärgernis“ zu vermeiden.

Dies änderte sich nach der NS-Machtergreifung, insbesondere aber nach der Verschärfung der entsprechenden Strafnormen 1935 und dem ab diesem Zeitpunkt verschärften Vorgehen gegen Homosexuelle grundlegend. Das NS-Regime benutzte „die Sittlichkeitsprozesse als ein Herrschaftsinstrument (…) in dem weiteren Sinne, dass es strafrechtliche Vorgänge propagandistisch gegen eine bestimmte Oppositionsgruppe ausspielte.“ (Hockerts, Sittlichkeitsprozesse, 3). Da homosexuelle Handlungen als besonders ehrenrührig galten, eignete sich dieser Vorwurf im besonderen Maße im Kampf gegen katholische Welt- und Ordensgeistliche, zumal diese sich auch nach ihrem eigenen Selbstverständnis als Hüter von Sitte und Moral betrachteten. Diese indirekte Vorgehensweise zeigt aber auch, dass das Regime mit Rücksicht auf die Stimmung in der Bevölkerung vor einem direkten Angriff auf die Kirchen zurückschreckte.

Die Instrumentalisierung der Prozesse durch die Nationalsozialisten stand jedoch in einer längeren Traditionslinie antiklerikaler Propaganda. Bereits während des Kulturkampfes im 19. Jahrhundert war es in einzelnen deutschen Staaten zu einer auffälligen Häufung von Prozessen gegen Kleriker wegen Verstößen gegen den § 175 RStGB gekommen, während die Verfolgung homosexueller Handlungen vor dem Ersten Weltkrieg ansonsten nicht mit besonderer Intensität betrieben wurde. Dahinter stand das Bestreben liberaler Kreise, den moralischen Superioritätsanspruch der katholischen Kirche zurückzudrängen. Zudem stellte der Bereich der Sexualität seit dem 19. Jahrhundert eines der grundsätzlichen Stereotype antikirchlicher Kritik und Polemik dar.

Akteure und Strategien der NS-Propaganda

Der ehemalige Priester Albert Hartl (NSDAP, 1904-1982) kümmerte sich als Referent "Politischer Katholizismus" im Sicherheitsdienst (SD) der SS um die Bespitzelung der katholischen Kirche. (Foto von Schreiben, gemeinfrei via Wikimedia Commons)

Zu den wesentlichen Motoren der antikirchlichen Propaganda gehörte der Sicherheitsdienst (SD) der SS, der sich mit den Jahren zum „Planungsstab für die politische Gegnerbekämpfung“ (Dierker, Planmäßige, 282) entwickelte. Der SD identifizierte die katholische Kirche frühzeitig als weltanschaulichen Gegner. Mit Albert Hartl (NSDAP, 1904–1982) fungierte ein ehemaliger Münchner Priester als SD-Kirchenreferent. Der SD war auf eine systematische Gegnerverfolgung aus und durch „planmäßige Ausschlachtung“ der Prozesse sollte das Vertrauen der Bevölkerung in die Institution Kirche systematisch erodiert werden.

Die systematische Steuerung der Presseberichterstattung erfolgt jedoch durch das Reichspropagandaministerium. Die Vorgaben für die Redaktionen waren in diesem Fall außerordentlich scharf und präzise. Teilweise nahmen ministeriell ausgewählte Sonderreporter an den Prozessen teil, um darüber zu berichten oder es musste seitens der Presseorgane auf vorgefertigte tendenziöse Berichte des amtlichen Deutschen Nachrichtenbüros (DNB) zurückgegriffen werden. U. a. wurde festgelegt, über welche Verfahren nur regional und über welche überregional berichtet werden sollte.

Neben den Presseberichten erschienen in zeitlicher Nähe zu den Prozessen zahlreiche Pamphlete, Broschüren und Bücher mit antiklerikaler Stoßrichtung. Teilweise erlebten auch ältere Werke Neuauflagen. Bereits mit ihren zumeist reißerischen Titeln bedienten sie die voyeuristische Neugier des Publikums.

Die öffentlich kommunizierte Zahl der Täter wich von den tatsächlichen Zahlen erheblich nach oben ab. Es sollte der Anschein erweckt werden, dass es sich nicht um Einzeltäter handle, sondern um ein systemisches Versagen, das für das marode System Kirche typisch sei. Es wurde den Lesern suggeriert, dass die Berichterstattung über die Vorfälle erforderlich sei, um Eltern zu warnen und Schaden von der Jugend abzuwenden, die in NS-Organisationen besser aufgehoben sei als in kirchlichen.

Für differenzierende Lesarten war kein Raum. So durfte etwa über Freisprüche und Verfahrenseinstellungen im Regelfall nicht berichtet werden. Einen nochmals verschärften Ton schlugen radikale Parteiorgane wie Der Stürmer oder Das Schwarze Korps an, die an sarkastischen Kommentaren und Schmähkarikaturen nicht sparten.

Die Agitation erreichte ihren Höhepunkt im zeitlichen Umfeld der Goebbels-Rede vom 28. Mai 1937 in der Berliner Deutschlandhalle, die von allen Rundfunkstationen übertragen wurde. Der Reichspropagandaminister sprach in seiner orchestrierten Hetzrede von „Sexualverbrecher[n] im Priesterrock“, „Schweinereien“ und „planmäßiger sittliche[r| Vernichtung Tausender von Kindern und Kranken“. Dem Ordensstand unterstellte er „herdenmäßige Unzucht“ und einen beispiellosen Sittenverfall, wie er in der gesamten Kulturgeschichte der Menschheit kaum noch einmal festzustellen sei. Andere Mitglieder der Reichsregierung oder gar Hitler selbst, nahmen zu dem Thema hingegen öffentlich nur am Rande Stellung.

In Bayern nahm Kultus- und Innenminister Adolf Wagner (NSDAP, 1890-1944, Gauleiter des Gaus München-Oberbayern 1930-1944), ein fanatischer Kirchengegner, die Prozesse zum Anlass, den Kampf gegen das katholische Schulwesen zu forcieren: Ende 1936 ließ er wegen angeblicher sittlicher Gefährdung der Jugend vier katholische Ordensschulen und Erziehungsheime schließen, obwohl zu diesem Zeitpunkt gar keine Angehörigen der betreffenden Orden angeklagt waren.

Reaktionen der bayerischen Bischöfe und Kleriker

Papst Pius XI (1857-1939, Papst 1922-1939) kritisierte in seiner 1937 veröffentlichten Enzyklika "Mit brennender Sorge" das NS-Regime. Foto: Heinrich Hoffmann (1885-1957). (Bayerische Staatsbiliothek, Bildarchiv hoff-3073)

Die Kirchenobrigkeit reagierte auf das Prozessgeschehen und die damit verbundene Propaganda mit den ihr zur Verfügung stehenden und üblicherweise in Konfliktlagen mit dem Nationalsozialismus angewandten Mitteln: Protesteingaben bei der Reichsregierung und öffentliche Stellungnahmen, vor allem in Form von Hirtenbriefen. In diesen kritisierten die Bischöfe das juristische Prozessgeschehen nicht und die Taten wurden nicht in Abrede gestellt. Vielmehr wurde die von der NS-Propaganda häufig erhobene Anschuldigung, die Kirche stelle die Täter als Märtyrer dar, entschieden zurückgewiesen. Kritisiert wurden vor allem die stark überhöhten Zahlen und der hetzerische Propagandafeldzug. Auch Papst Pius XI. kritisierte in der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ die antikirchliche Propaganda im Zusammenhang mit den Prozessen.

Der einfache Klerus wandte sich in seinen Predigten vielfach gegen die in der Prozesspropaganda gegen die Kirche erhobenen Anschuldigungen. Er konnte sich dabei auf statistisches Material, Richtlinien und Instruktionen stützen, welches die bischöflichen Ordinariate zu diesem Zweck zusammenstellten. Das inhaltliche Spektrum der in den Predigten vorgebrachten Argumente war weit gespannt und reichte von vorsichtig vorgebrachten Korrekturen bis hin zu offener Kritik und mutigen Gegenanklagen. Als besonders wirksam erwies sich das Aufdecken der tatsächlichen Propagandaziele der weltanschaulichen Gegner.

Pater Rupert Mayer SJ (1876-1945) bei einer Fronleichnamsprozession vor dem Münchner "Ratscafé" im Peterhof, ca. Mitte der 1930er Jahre. Der am 3. November 1987 seliggesprochene Pater Rupert Mayer SJ kritisierte das NS-Regime öffentlich. (SJ-Bild)

Zu den bekanntesten Kritikern der Sittlichkeitsprozesse gehörte der Münchner Jesuitenpater Rupert Mayer SJ (1876–1945). Er erhielt aufgrund seiner scharfen Predigten im April 1937 zunächst Redeverbot. Als er sich nicht daran hielt, wurde er verhaftet und wegen Kanzelmissbrauchs und Verstoßes gegen das Heimtückegesetz zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Überregionales Aufsehen erregte auch der Fall des Eichstätter Dompredigers Johannes Kraus (1890-1974), der die Geschehnisse im Januar 1937 mit dem Vorgehen der Bolschewisten in der Sowjetunion verglich und seinerseits homosexuelle Vergehen von NS-Parteigängern anprangerte. Kraus entging nach erheblichem Aufruhr einer Verhaftung auf persönliche Weisung Hitlers. Zahlreiche andere Geistliche wurden infolge kritischer Predigten zu den Prozessen verwarnt oder in Schutzhaft genommen.

Der Münchner Erzbischof Kardinal Michael von Faulhaber (1869–1952, Erzbischof von München und Freising 1917–1952) in Rom, 1935. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv hoff-988)

Hitler bot Kardinal Michael von Faulhaber (1869–1952, Erzbischof von München und Freising 1917–1952) bei dessen Besuch auf dem Obersalzberg am 3. November 1936 eine Art Kuhhandel an: Er wolle die Sittlichkeitsprozesse gegen Geistliche und Ordensangehörige einstellen lassen, wenn der Episkopat sich im Gegenzug bereiterkläre, die Kirchenführer zu einem Hirtenwort gegen den Kommunismus zu bewegen. Faulhaber ging darauf ein, ohne zu wissen, dass Hitler ohnehin beabsichtigte, die Prozesse dauerhaft einzustellen, um innenpolitische Konfliktlagen zu befrieden.

Wirkung bei der bayerischen Bevölkerung

Über die Auswirkungen der Prozesspropaganda auf die gesamte Bevölkerung gibt es keine Untersuchungen. Die Kampagne zielte jedoch von Beginn an primär auf den katholischen Bevölkerungsteil ab, um diesen dauerhaft von der Kirche zu entfremden. Hierzu liegen insbesondere für Bayern mit den Regierungspräsidentenberichten, in denen die Stimmung der Bevölkerung systematisch erhoben wurde, gute Quellen vor. Im Hinblick auf dieses Ziel war die Kampagne nur mäßig erfolgreich. Zwar stieg die Zahl der Kirchenaustritte im Jahr 1937 nicht unbeträchtlich; doch war dies nur ein vorübergehendes Phänomen und im Hinblick auf die Gesamtzahl der katholischen Bevölkerung unerheblich. Auch die Intensität des religiösen Lebens – sofern in Statistiken (Gottesdienstbesuch, Kommunionempfang, Teilnahme an Prozessionen) messbar – ließ nicht spürbar nach.

Stattdessen war die katholische Bevölkerung eher über antikirchliche Maßnahmen des Regimes besorgt; auch den Auseinandersetzungen um die Konfessionsschule wohnte ein starkes Erregungspotential inne. Insgesamt stießen die Presseberichte bei der katholischen Bevölkerung, die den agitatorischen Charakter der Propaganda durchaus erkannte, auf ein großes Misstrauen, während etwa bischöfliche Hirtenbriefe und Predigten sich überwiegend positiver Resonanz erfreuen konnten, die sich gelegentlich auch in spontanen Beifallsbezeugungen äußerte. Kirchliche Feiern, wie etwa das 700-Jahr-Jubiläum der Weihe des Bamberger Doms im Mai 1937, erfreuten sich regen Zulaufs.

Hingegen festigte die Propaganda bei den Katholiken das Misstrauen gegenüber der durch Staats- und Parteiapparat gelenkten Presse und führte zu erheblichen innenpolitischen Unruhen. Dies dürfte einer der wesentlichen Gründe sein, warum die Kampagne vorzeitig beendet wurde.

Nachwirkungen nach 1945

Nach 1945 wurden die Sittlichkeitsprozesse – auch von Historikern – vor allem als Mittel des sog. Kirchenkampfes und als Instrument der NS-Propaganda betrachtet, das dazu gedient habe, die katholische Kirche zu diskreditieren. Zugleich wurde die mit den Prozessen verbundene antikirchliche Propaganda der Nationalsozialisten vor dem Hintergrund der weltanschaulichen Kontroversen über das Verhalten der katholischen Kirche in der NS-Zeit als Beleg für die oppositionelle Haltung der Kirche herangezogen. Eine Auseinandersetzung mit den eigentlichen Tätern (d. h. den verurteilten Klerikern), den eigentlichen Tatbeständen und den tatsächlichen Opfern des stattgefundenen Missbrauchs fand hingegen ebenso wenig statt, wie eine differenzierende Betrachtung des Tatgeschehens, das zwischen einvernehmlichen sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen und dem sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen und Minderjährigen unterschieden hätte.

In diesem Zusammenhang wurde unlängst die Frage aufgeworfen, ob die Instrumentalisierung der Taten für die Antikirchenpropaganda der Nationalsozialisten, zugleich aber auch die fehlende bzw. fehlgeleitete Aufarbeitung der Ereignisse in der Nachkriegszeit nicht einer Verdeckung und Verfestigung der tatsächlich bestehenden Täterstrukturen nach 1945 Vorschub geleistet und damit indirekt weitere Missbrauchshandlungen begünstig habe. Die Berliner Historikerin Birgit Aschmann (geb. 1967) sprach im Zusammenhang mit der fehlgeleiteten Aufarbeitung 2020 von einer „Dialektik der Dämonisierung und Bagatellisierung“ (zit. nach Jansen, Goebbels).

Literatur

Quellen

Weiterführende Recherche

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Empfohlene Zitierweise

Thomas Forstner, Sittlichkeitsprozesse (NS-Zeit), publiziert am 15.12.2021; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Sittlichkeitsprozesse_(NS-Zeit)> (19.04.2024)