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Physikatsberichte: Unterschied zwischen den Versionen

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Birgit Speckle, Physikatsberichte, publiziert am 12.12.2022; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Physikatsberichte ({{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH2}}.{{CURRENTYEAR}})
Birgit Speckle, Physikatsberichte, publiziert am 12.12.2022; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Physikatsberichte> ({{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH2}}.{{CURRENTYEAR}})


[[Kategorie:Bayerische Geschichte| ]]
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Version vom 14. Dezember 2022, 14:05 Uhr

von Birgit Speckle

Buchdeckel des Physikatsberichts von Monheim (heute Lkr. Donau-Ries), den der dortige Gerichtsarzt Dr. Friedrich Kummer (geb. 1810) verfasst hat. (Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 6874(113)

Als „Physikatsberichte“ werden medizinisch-topografische und ethnografische Beschreibungen bezeichnet, die das Bayerische Staatsministerium des Innern im Jahr 1858 bei den beamteten Landgerichtsärzten für ihre jeweiligen Amtsbereiche in Auftrag gab, um vor dem Hintergrund der sozialen Fragen der Zeit ein umfassendes Bild von der Topografie der Landgerichtsbezirke und den Lebensumständen der Bevölkerung zu erhalten. Die auf der Grundlage eines vorgegebenen Frageplans erstellten Berichte entstanden zwischen 1858 und 1861 und sind für das gesamte bayerische Staatsgebiet überliefert. Sie unterscheiden sich in Umfang und Informationstiefe von vorherigen und späteren Verwaltungsberichten dieser Art. Sie zeichnen jedoch kein authentisches Bild des Alltagslebens in der Mitte des 19. Jahrhunderts, sondern sind von den persönlichen Interessen und Wünschen sowie Karrierezielen der Verfasser geprägt, die deshalb bei einer angemessenen Auswertung zu berücksichtigen sind. Die zum großen Teil edierten Physikatsberichte bilden eine vielgenutzte Quelle etwa für die ortsgeschichtliche, regionalhistorische, volkskundliche und medizingeschichtliche Forschung.


Definition

Landgerichte im Königreich Bayern (rechts des Rheins) im Jahr 1862. Die Karte stellt auch die edierten Physikatsberichte dar (Stand 2022). (Gestaltung: Stefan Schnupp, Vorlage: Spindler/Diepolder, Bay. Geschichtsatlas, 41)

Physikatsberichte sind medizinisch-topografische und ethnografische Beschreibungen. Verfasst wurden sie von den beamteten Landgerichtsärzten für ihre jeweiligen Amtsbereiche. Die Erstellung der Berichte erfolgte aufgrund zweier Verordnungen vom 21. April 1858 des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, damals zuständig für das Medizinalwesen. Die Befragung wurde nur einmal durchgeführt. Die Berichte stammen aus den Jahren 1858‑1861 und liegen für das gesamte bayerische Staatsgebiet vor.

Ziel der Physikatsberichte war es, ein umfassendes Bild von der Topografie der jeweiligen Landgerichtsbezirke einerseits und möglichst sämtlicher Lebensbereiche der Bevölkerung andererseits zu erhalten. Der Kunstbegriff „Physikatsbericht“ bezieht sich auf die in Bayern bis 1838 verwendete Amtsbezeichnung Physicus für Ärzte und deren Physikate, also Zuständigkeitsbereiche. Von „Physikatsberichten“ wird erst in der Forschungsliteratur gesprochen.

Historischer Hintergrund

Maximilian II., König von Bayern (1811-1864). (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv port-009250)

Die Entstehung der Physikatsberichte wie auch des ihnen zugrundeliegenden Frageplans in der Mitte des 19. Jahrhunderts fielen in eine geistesgeschichtliche und politische Umbruchzeit. König Maximilian II. (1811-1864, reg. 1848-1864) regierte das Königreich Bayern am Beginn des Wandels vom Agrar- zum Industriestaat. Seine Regierungszeit war geprägt durch das Gedankengut der Volksaufklärer des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Demnach konnten nur gesunde, arbeitsfähige Untertanen Steuern zahlen oder das Militär stärken. Die Bevölkerung galt entsprechend als Fundament für einen funktionierenden und prosperierenden Staat. Hinzu kamen Einflüsse der liberal und demokratisch fundierten Gedankenwelt der Revolution von 1848.

Der König befasste sich intensiv mit den zunehmend wichtiger werdenden sozialen Fragen, insbesondere mit Möglichkeiten zur Bekämpfung der Armut in der Bevölkerung und der Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustands. Mit dem Interesse an seinen Untertanen war er ein Kind seiner Zeit, in der die Romantiker das „Volk“ entdeckten und seine Bräuche, Erzählungen und Lebensweisen zu beschreiben begannen. Zeitgleich zeigten Spätaufklärer wie Lorenz Westenrieder (1748–1829), Joseph von Hazzi (1768–1845) oder Franz von Paula Schrank (1747–1835) in ihren Werken Missstände und entsprechende Lösungsvorschläge für vernunftgeleitetes Handeln auf.

Untersuchungen im Umfeld der Physikatsberichte

Beispiel einer Seite aus der Montgelas-Statistik, durch die man ab 1808 versuchte, Bayern neu statistisch zu erfassen. Die hier gezeigte Seite erfasst die Gebäude, Kirchen und Schulhäuser im Mainkreis. Topographie von Bayern, d.h. eine statistische Einteilung der Orte, Städte, Dörfer, der Gebäude, Kirchen und Schulhäuser. Bd. 1: Mainkreis, 1809/10. (Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 6844(1))

Maximilian II. rief 1848 und 1857 Wettbewerbe aus, die Lösungsansätze zur Bekämpfung der Armut im Land bieten sollten und gab mehrere Untersuchungen in Auftrag. Bereits 1846 hatte der Privatsekretär des damaligen Kronprinzen, Franz Xaver Schönwerth (1810–1886), den Entwurf einer Volksbeschreibung verfasst, auf deren Basis Maßnahmen für die Beseitigung der bestehenden sozialen Missstände vorgenommen werden sollten. Kausale Verbindungen zwischen den einzelnen Schriften lassen sich jedoch nicht in jedem Fall nachweisen. Ein in der Forschung postulierter Zusammenhang der Physikatsberichte mit der von Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897) betreuten „Bavaria. Landes- und Volkskunde des Königreichs Bayern“ wird von der jüngeren Forschung widerlegt.

Die Physikatsberichte sind Teil einer Flut von Berichten, Statistiken und Enqueten, also groß angelegten Untersuchungen zu sozial- und wirtschaftspolitischen Verhältnissen. Ihr Entstehen ist den Aufträgen staatlicher Stellen zu verdanken. Möglich wurde dies durch ein zentralistisch organisiertes Verwaltungswesen im Königreich, das auf den Plänen des Staatsreformers Maximilian Joseph Graf von Montgelas (1759–1838) basierte.

Entstehung des Frageplans

Der Frageplan, auf dem die Physikatsberichte basieren, wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht von Ärzten, sondern von Verwaltungsbeamten erstellt. Der topografische Teil folgt älteren Fragetraditionen. Beeinflusst ist er von den medizinischen Topografien ebenso wie von der Bakteriologie und einem aufklärerisch intendierten Interesse an der Gesundheit des Volkes und den damit zusammenhängenden Lebensbedingungen.

Der Frageplan im Wortlaut

Der Erlass zur Erstellung der Physikatsberichte wurde im Aerztlichen Intelligenz-Blatt Nr. 18 (1. Mai 1858) auf den Seiten 209-213 publiziert. (Bayerische Staatsbibliothek, 4 Bavar. 1055-5)

A.  In  t o p o g r a p h i s c h e r  Hinsicht: Lage des Bezirkes nach den geographischen Länge- und Breite-Graden, dann nach der Höhe über der Meeresfläche; ‑‑ natürliche und politische Gränzen; ‑‑ Klima des Bezirkes nach der herrschenden Temperatur, nach herrschenden Winden, Regen, Nebeln, Schnee und Hagel; Wechsel der Jahreszeiten und des Klimas in denselben; ‑‑ Zeit der Saat und Aerndte; ‑‑ geognostische Beschaffenheit des Bodens im Allgemeinen; Gebirgs-Bildung; Bodengattung nach Ober- und Unterlage; Quellen, Bäche, Flüsse, Teiche, Sümpfe und Moore; Ueberschwemmungen; ‑‑ Bodencultur; Vertheilung des Landes in Oedung, Wald, Wiesen, Feld und Gärten; Fruchtbarkeit des Bodens; ‑‑ Natur-Erzeugnisse von medicinischer Bedeutung wie Mineralwässer, oficinelle Pflanzen, Mineralien etc.

B.  In  e t h n o g r a p h i s c h e r  Hinsicht: Charakteristisches in der physischen uid [sic!] intellectuellen Constitution der Bezirks-Bevölkerung; Verteilung der Bevölkerung im Bezirke; Verhältniss der Zahlen der Geschlechter, der Altersklassen, der Verehelichten, Verwittibten und Unverheiratheten; ‑‑ Wohnungs-Verhältnisse im Allgemeinen und insbesondere bezüglich auf Vereinödung oder Zusammensiedelung, auf Zudichtwohnen, auf Bau-Anlage und Bau-Material, auf Heiz-Material und Feuerungsweise; auf Höhe der Fenster, Beschaffenheit der Fussböden, Lage der Aborte und Dungstätten an den Wohnhäusern; ‑‑ Kleidungsweise nach Verschiedenheit von Geschlecht, Stand, Alter und Jahreszeit; Stoff und Mode in Kleidung; ‑‑ Nahrungsweise, ob vorherrschend vom Pflanzen- oder Thier-Reiche, reichlich oder ärmlich; Bereitungs-Weise der Speisen; Getränke, natürliche und künstlich-erzeugte; Ernährung der Kinder im ersten Lebensjahre; ‑‑ Beschäftigung der Bewohner; Verwendung der Jugend zu schwerer oder sonst ungeeigneter Arbeit; Fabrik- und ähnliche Arbeit; Zeit-Eintheilung für Ruhe und Arbeit; ‑‑ Lagerstätten, deren Beschaffenheit und locale Unterbringung; ‑‑ Wohlstand; Verhältniss der Wohnhabenden, Reichen und Armen; ‑‑ Reinlichkeit in und ausser den Häusern; an Wäsche und Kleidung; Neigung zum Baden; ‑‑ Vergnügungen, Feste, besondere Gewohnheiten;  ‑‑ eheliches Leben, gewöhnliche Zeit der Eingehung desselben; Hang zur Ehelosigkeit; Fruchtbarkeit; Geschlechts-Ausschweifungen; Achtsamkeit bei Schwangeren und Wöchnerinnen; ‑‑ geistige Constitution der Bevölkerung; Neigung zu höherer Ausbildung; Verharren an der Heimath und ihrem Leben; religiöse Haltung des Volkes; Hang zu Mysticismus, Schwärmerei, Aberglauben.

(Zitiert nach Aerztliches Intelligenz-Blatt Nr. 18 (1.5.1858), 213.

Situation der Landgerichtsärzte im 19. Jahrhundert

Desiderius Beck (1804-1877) war von 1838 bis zu seinem Tod der Gerichtsarzt im Bezirk Bad Aibling (heute Lkr. Rosenheim). Wegen schlechter Verdienstmöglichkeiten bewarb er sich mehrmals erfolglos auf besser besoldete Stellen. Er war der Begründer des Badebetriebs in Aibling, was der Ausgangspunkt für den Aufstieg des Marktes zum Kurort war. Ölgemälde eines unbekannten Künstlers. (Heimatmuseum Bad Aibling)

Ärzte profilierten sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend als Experten für medizinische Belange. Seit 1803 arbeiteten Landgerichts- und Stadtärzte als Staatsbeamte. Andere Heilkundige, wie Wundärzte, Apotheker, Bader und Hebammen, waren ihnen unterstellt. Dass der Weg zum gesellschaftlich anerkannten Mediziner – einer damals ausschließlich männlichen Profession – in der Mitte des 19. Jahrhunderts trotzdem noch weit war, ist in zahlreichen Physikatsberichten nachzulesen. Dr. Johann Küsser (1812-1886) berichtet über das Landgericht Regenstauf (heute Lkr. Regensburg):

Von den Eltern ererbte Vorurtheile, Aberglaube, Mißtrauen und Armut stehen dem Sanitätswesen oft hinderlich im Wege. Bei gefährlichen Krankheiten wird zwar immer des Arztes Hilfe in Anspruch genommen, aber erst dann, wenn vorher […] allerlei Hausmittel angewendet oder geldgierige Pfuscher zu Rathe gezogen worden sind. (zitiert nach Sailer, Regensburg, 271)

Zahlreiche Versetzungsgesuche und deren Begründungen zeugen von den Problemen der Mediziner: Sie klagten über weite Wege, die zu den Patienten zurückzulegen waren, über das raue Klima, das zahlreiche Krankheiten mit sich bringe, schlechte Wohn- und Verdienstmöglichkeiten, Konkurrenz durch Laienmediziner, fehlende Möglichkeiten, sich selbst fortzubilden oder die Kinder auf geeignete Schulen zu schicken und darüber, die eigene Konfession nicht praktizieren zu können. Auch diese persönlichen Wünsche beeinflussten die Ärzte beim Verfassen der Berichte.

Interessen von Auftraggebern und Berichterstattern

Das Innenministerium als Auftraggeber erwartete sich von den Ärzten Erfolgsberichte und damit eine Bestätigung seiner Arbeit. Wer sich von den Berichteschreibern eine Versetzung wünschte, dachte diese Maßgabe bei der Erstellung seines Berichtes mit.

Die Antworten auf den Fragenplan sollten in einem nächsten Schritt für die Ärzteschaft nutzbar gemacht werden. Dazu kam es jedoch nicht. Wie zahlreiche andere Erhebungsergebnisse dieser Zeit, verschwanden die Berichte in den Registraturen der Kreisregierungen: Die Aufgabe, eine Erhebung durchzuführen, war mit der Abgabe der Berichte erfüllt. Das Interesse lag offenbar ausschließlich darin, Daten zu sammeln und nicht in deren Auswertung.

Die Physikatsberichte spiegeln die Interessen ihrer Erstseller. Dr. Adam Seuffert (1805-1871), der über den Landgerichtsbezirk Baunach (heute Lkr. Bamberg) berichtete, hatte eine Vorliebe für statistisches Zahlenmaterial, das seinen Bericht entsprechend prägt. Dr. Georg Friedrich Christenn (1813-1877), Landgericht Ebern (heute Lkr. Haßberge), äußerte sich überproportional ausführlich zu Spezialgebieten, etwa der Wärmeleitfähigkeit verschiedener Kleidungsstoffe. Andere Themen des Fragenkatalogs sind entsprechend deutlich kürzer abgehandelt.

Die beiden Ärzte für die Landgerichtsbezirke Aub und Ochsenfurt (beide heute Lkr. Würzburg) hatten grundsätzlich unterschiedliche Interessen an der Erstellung der Berichte: Derjenige von Dr. Felix Walter (1807-1863), zuständig für den Landgerichtsbezirk Aub, umfasst lediglich ein Drittel vom Text seines Ochsenfurter Kollegen Dr. Christian Wilhelm Gustav Meyer (1805-1866). Walter beantwortet die Fragen kurz und knapp. Meyer dagegen berichtet eingehend von Geschichte und Gegenwart und zitiert Literatur. Der Bericht sollte wohl in München einen guten Eindruck zu machen. Dabei verrät Meyer, wie viele seiner Amtskollegen sowohl aufklärerische Tendenzen, wenn er z. B. von „buntscheckigen Votivbildern“ (zitiert nach Weid, Würzburg, 14) spricht, aber ebenso antisemitische Einstellungen: „Der Hausirhandel der Juden, die mit der unverschaemtesten Zudringlichkeit den Thoren Gelegenheit zum Borgen geben.‘“ (zitiert nach Weid, Würzburg, 14f.).

Unterschiedliche Informationstiefe der Berichte

Der Informationsgehalt der Physikatsberichte ist unterschiedlich: Karriereorientierte Berichterstatter lieferten ausführliche Berichte ab, während andere, die etwa kurz vor der Pensionierung standen, diese Arbeit eher oberflächlich erledigten und nach Möglichkeit Formulierungen vermieden, die unliebsame Nachfragen nach sich ziehen konnten.

Editionen und Bearbeitungen

Wolfgang Zorn (1922-2004). Abb. aus: Wolfgang Zorn, Studia Sueviae historica. Beiträge zur Geschichte Bayerisch-Schwabens, Augsburg 1997. (Schwäbische Forschungsgemeinschaft e. V.)

Die Physikatsberichte befinden sich in der Bayerischen Staatsbibliothek (Cgm 6874), mit Ausnahme derjenigen für Oberbayern, die im Bestand des Historischen Vereins für Oberbayern im Stadtarchiv München verwahrt werden.

In den 1860er/70er Jahren erschienen zwei Editionen von Berichten, ein knappes Dutzend folgte bis in die 1980er Jahre. Die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München plante auf Anregung von Wolfgang Zorn (1922–2004) eine Volledition sämtlicher Berichte. Dieser Vorschlag steht im Zusammenhang mit dem damaligen flächendeckenden Interesse an der Heimatforschung (Zorn, Medizinische). Das Projekt wurde jedoch nicht verwirklicht.

Die Bezirksheimatpfleger von Unterfranken und Schwaben übernahmen stattdessen federführend die Bearbeitung und Herausgabe der Physikatsberichte in ihren Bezirken. Klaus Reder (geb. 1958) initiierte und leitete in Zusammenarbeit mit der Universität Würzburg sowie Stadt- und Kreisheimatpflegern die textkritische Edition sämtlicher unterfränkischer Physikatsberichte. Der letzte Band erschien 2009. Die Berichte aus Schwaben erschienen nach lokalen Vorarbeiten unter der Federführung von Gerhard Willi (geb. 1958) und dem damaligen Bezirksheimatpfleger Peter Fassl (geb. 1955). Der letzte Band erschien 2021. Ebenfalls vollständig ediert sind die Berichte aus der ehemals bayerischen Pfalz, weitgehend komplett diejenigen aus Oberbayern und der Oberpfalz. Die Berichte aus Niederbayern, Ober- und Mittelfranken harren noch der vollständigen Herausgabe.

Auswertungen

Wegmarken in der systematischen Erforschung waren 1986 eine Untersuchung der niederbayerischen Berichte (Spiegel, Niederbayern) und 1995 eine umfassende Untersuchung der bayerischen Physikatsberichte (Reder, Physikatsberichte). Es folgten zahlreiche kleinere Arbeiten für einzelne Bezirke oder Orte.

Die Physikatsberichte haben sich unter anderem als Quelle für die ortsgeschichtliche (z. B. Pötzl, Mittelalter), regionalhistorische (z. B. Sachsse/Tennstedt, Armenfürsorge), volkskundliche (z. B. Willi, Quelle) und medizingeschichtliche (z. B. Probst/Probst, Loisach) Forschung etabliert. Horst Gehringer (geb. 1965) bietet einen umfassenden Forschungsstand (Gehringer, Infrastruktur, 49-56). Die große Zahl von Arbeiten zu Physikatsberichten mag auch im Zusammenhang mit dem erleichterten Zugang durch die Edition eines Großteils der Berichte stehen. Es wird abzuwarten sein, ob die im Wachstum begriffene Digitalisierung der Editionen auch die weiter vermehrte Nutzung dieser Quelle zur Folge hat.

Quellenkritik

Handwerker aus dem Werdenfelser Land in Arbeitskleidung. Fotografie von Johannes Bernhard (1848–1899), ca. 1890/1900. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv ansi-000381)

Physikatsberichte zeichnen kein authentisches Bild des Alltagslebens in der Mitte des 19. Jahrhunderts, darüber ist sich die Forschung einig. Notwendig für die angemessene Auswertung der Beschreibung eines Landgerichts ist die Betrachtung im Kontext anderer Berichte. Hilfreich ist die Rezeption überregional angelegter Untersuchungen (z. B. Bergmeier, Wirtschaftsleben; Loos, Mittelfranken; Probst, Ostbayern; Spiegel, Alltagsleben; Wormer, Oberpfälzer).

Bei den Physikatsberichten handelt es sich um Verwaltungsschriftgut, erstellt von Verwaltungsbeamten. Biographien, Intentionen, Ausbildung und Interessen sowohl der Ersteller des Frageplans wie auch der Verfasser dieser Berichte selbst müssen bei der Lektüre und Auswertung berücksichtigt werden.

Eine unkritische, ahistorische Lesart der Physikatsberichte macht diese Quelle zum Steinbruch für pittoreske Anekdoten und Stereotypisierungen , wie jene sattsam bekannte vom „typischen“ Bayern, Schwaben oder Franken. Möglichkeiten dazu bieten die Berichte genug, so wie das Zitat des Gerichtsarztes Dr. Joseph Spieß (1811-1882) über die Werdenfelser Bevölkerung:

„Charakteristisch ist in physischer Beziehung, dass der Altwerdenfelser […] seine körperlichen Kräfte möglichst zu schonen sucht. Fleißig und arbeitsam ist derselbe nur so lange, als es sich um die nöthigsten Lebensbedürfniße […] handelt. […] Wird ihm die erwünschte Koste nicht verabreicht, so bleibt er dann zu Hause, daher das Sprüchwort: ‚Lieber einen leeren Darm als einen müden Arm!‘“ (zitiert nach Gehringer, Alltagsleben, 48)

Literatur

Quellen

  • Physikatsberichte von Oberbayern (Historischer Verein von Oberbayern: Stadtarchiv München DE-1992-HV-MS-0401-01 bis DE-1992-HV-MS-0401-40).

Weiterführende Recherche

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Empfohlene Zitierweise

Birgit Speckle, Physikatsberichte, publiziert am 12.12.2022; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Physikatsberichte> (29.03.2024)