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Meistersinger

Aus Historisches Lexikon Bayerns

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Der Nürnberger Meistersinger Philipp Hager (1599-1662) beim Liedvortrag während einer "Singschule". (Kabinettscheibe von 1637, Kunstsammlungen der Veste Coburg).

von Michael Baldzuhn

Städtische Gelegenheitsdichter des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, zumeist Handwerker, die sich in eigenen Gesellschaften zusammenschlossen. Ihre Meisterlieder stehen in vielem in der Tradition der höfischen Sangspruchdichtung des 12.-14. Jahrhunderts, deren Vertreter die Meistersinger als "alte meister" verehrten. Meisterliche Lieder dichtende Handwerker sind bereits seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert, zuerst in München und Nürnberg, belegt. Eine Institutionalisierung ihrer Zusammenkünfte in Form von Gesellschaften ist hingegen erst seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert zu greifen. Diese waren v. a. im süddeutschen Raum verbreitet, insbesondere in Reichs- und Bergbaustädten, wobei Nürnberg eine zentrale Rolle spielte. Einige Gesellschaften bestanden bis ins 19. Jahrhundert. Einen wichtigen Einschnitt in ihrer Geschichte stellte der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) dar.

Begriffsbestimmung

Als Meistersinger bezeichnet man jene stadtbürgerlichen Gelegenheitsdichter des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, die im institutionalisierten Rahmen organisierter Zusammenschlüsse zu Meistersinger-Gesellschaften Meisterlieder dichteten und/oder vortrugen. Die Meistersinger führten mit ihren Liedern in vielem die Praxis der mittelalterlichen Sangspruchdichter des 12. bis 14. Jahrhunderts fort - vor allem darin, für ihre Meisterlieder entweder selbst erfundene oder fremde Töne zu benutzen (als "Ton" bezeichnet man die Einheit von Melodie und allen weiteren formalen Bestimmungen einer Liedstrophe wie etwa ihr Reimschema und den Versbau). Die Meistersinger waren aber nicht mehr, wie es die Sangspruchdichter als Fahrende überwiegend waren, Berufsdichter, sondern gingen vielmehr hauptberuflich einem eigenen Brotberuf, meist als Handwerker, nach. Akademisch ausgebildete Meistersinger (Geistliche, Lehrer, Juristen) und Adelige waren unter ihnen die Ausnahme. Als ausgeprägt institutionalisierter Form literarischer Kommunikation lassen sich dem Meistergesang, trotz zahlreicher Unterschiede im Detail, vergleichbare Phänomene aus dem übrigen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa zur Seite stellen, beispielsweise die niederländische Rederijker sowie nord- und südfranzösische wie spanische Sänger- oder "Literatur"-Gesellschaften.

Dass neben dem seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert belegten institutionalisierten Meistergesang bis ins 16. Jahrhundert hinein auch Berufsautoren in der Tradition der mittelhochdeutschen Sangspruchdichter ohne Beziehung zu den organisierten Meistersinger-Gesellschaften dichteten, hat lange zu terminologischer Verwirrung geführt. Inzwischen spricht man übergreifend von "meisterlichen Lieddichtern" und differenziert dann zwischen Berufsmeistern und Dilettanten.

Anfänge

Erste Seite aus der Handschrift mit Meisterliedern von Hans Folz (1450-1515). Abb. aus Hans Folz, Meisterlieder, c. 1496, fol. 1r. (Bayerische Staatsbibliothek Cgm 6353).

In der Stadt ansässige Nicht-Berufsmeister lassen sich für die Zeit vor der Institutionalisierung des Meistergesangs allein in Nürnberg sicherer fassen (und sie sind dort teils auch archivalisch belegt). Hier gehören zu den frühesten der Söldner Fritz Kettner (1392-1430), der Bäckermeister Michel Nachtigall (erw. 1414-1427), ein Hans Bogner (erw. ca. 1427-1450), der Naglermeister Fritz Zorn (erw. 1427-1447), der Bäckermeister Konrad Nachtigall (erw. ca. 1436-1484/85) und der Spenglermeister Kunz Vogelsang (1436-1447). Ob deren dichterische Produktion als repräsentativ für den frühen städtischen Meistergesang vor seiner Institutionalisierung in eigenen Singer-Gesellschaften gelten kann, ist aber fraglich - nicht nur, weil Vergleichsmöglichkeiten fehlen, sondern auch, weil die verbreitete Gewohnheit der frühen Nürnberger Meistersinger, für ihre Lieder selbst erfundene Töne zu benutzen, selbst in Nürnberg nicht selbstverständlich war. Der namhafteste der frühen Nürnberger Meistersinger, Hans Folz (1459-1513), sieht sich in einem Liederzyklus nämlich veranlasst, gerade für die Verwendung selbst geschaffener Töne zu werben. Wer seine Lieder dagegen in fremde Töne "setze", benutze dafür oft die besonders angesehenen der "alten Meister", als welche die Meistersinger die Sangspruchdichter des 13. und frühen 14. Jahrhunderts verehrten.

Grundlegende Voraussetzung für die Übernahme der von den fahrenden Sangspruchdichtern getragenen und höfisch geprägten Gattung durch städtische Gelegenheitsdichter war ein zunehmender Attraktivitätsverlust dieser alten "kunst" bei Hofe. Im Detail ist dieser bereits im 14. Jahrhundert einsetzende Prozess kaum zu rekonstruieren. Recht deutlich zeigt ihn jedoch die handschriftliche Überlieferung an: Kostspielige Liedersammlungen mit adelig-repräsentativem Hintergrund entstanden seit der Mitte des 14. Jahrhunderts kaum mehr (z. B. 'Manessische Liederhandschrift' C, 'Jenaer Liederhandschrift' J). Die nach einer Überlieferungs-"Lücke" von einem Dreivierteljahrhundert wieder breiter einsetzenden Textsammlungen der sog. Meisterlieder-Handschriften erscheinen dann in bereits deutlich veränderter Gestalt.

Entstehung und Verbreitung der Meistersinger-Gesellschaften

Zusammenschlüsse von Meistersingern in eigenen Gesellschaften lassen sich sicherer seit dem ausgehenden 15., frühen 16. Jahrhundert zuerst im südwestdeutschen Raum belegen:

Ort Beleg Prominente Vertreter
Nürnberg vor 1496 u. a. Hans Sachs (1494-1576), Benedikt von Watt (erw. 1591-1614), Ambrosius Metzger (ca. 1573-1632)
Ulm 1517 u. a. Johann Baur (gest. 1658), Hans Michael Gayßer, Johann Faulhaber (1580-1635)
Donauwörth 1. Viertel 16. Jahrhundert
Nördlingen 1. Viertel 16. Jahrhundert
Augsburg 1534 u. a. Johannes Spreng (1524-1601), Sebastian Wild (1547-1583), Onoferus Schwartzenbach (gest. 1574)
Memmingen ca. 1600

Ebenfalls früh sind die Meistersinger im Südwesten des Reichs nachweisbar:

Ort Beleg Prominente Vertreter
Straßburg Ende 15. Jahrhundert Wolfhart Spangenberg (ca. 1567-1636)
Freiburg im Breisgau 1513 keine Lieder erhalten
Kolmar 1549 u. a. Jörg Wickram (ca. 1505-1560)
Johannes Spreng (1524-1601), Kupferstich von Dominik Custos (1560-1612). Abb. aus: Johannes Spreng, Ilias Homeri, Augsburg 1610, Frontispiz. (Bayerische Staatsbibliothek, 2 A.gr.a. 33 a)
Allegorische Darstellung einer Versammlung der Straßburger Meistersinger. Abb. aus: Ernst Martin, Die Meistersänger von Strassburg, Straßburg 1882, Vorsatz. (Bayerische Staatsbibliothek, H.lit.p. 236 inv)

Im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts schlossen sich Gründungen in Österreich (Schwaz: 1536, Steyr: 2. Viertel 16. Jahrhundert), im Westen (Mainz: 1562) und im Osten Iglau (1571) und Breslau (1598) an. Einzubeziehen sind weitere Orte, an denen Gesellschaften nur mehr oder minder wahrscheinlich bestanden, jedenfalls nicht durch Archivalien belegt sind (Südosten: Dinkelsbühl, Esslingen, Kempten, München, Regensburg, Rothenburg ob der Tauber; Südwesten: Wissembourg; Mitteldeutschland: Frankfurt am Main, Magdeburg, Zwickau; Österreich: Eferding, Eisenerz, Wels; Böhmen/Schlesien: Brieg, Mährisch-Schönberg). Im Norden Deutschlands fand der Meistergesang keine Verbreitung, ohne dass man dafür bisher eine überzeugende Erklärung hat. Dasselbe gilt für die auffallende Dominanz von Reichs- und Bergbaustädten gegenüber anderen Stadttypen (Bischofssitze, Residenzstädte).

Die jüngste Gründung einer Gesellschaft war auch die langlebigste: Die Memminger Gesellschaft von 1600 bestand - zumindest auf dem Papier - bis 1875. Wenige Jahrzehnte zuvor war die Ulmer Gesellschaft aufgelöst worden (1839). Mehrere Zusammenschlüsse wurden schon im 18. Jahrhundert aufgegeben (Augsburg: 1772; Nürnberg: 1778; Straßburg 1780), die meisten bereits im 17. (Iglau: 1620; Schwaz und Steyer: 1. Jahrhundertviertel, Nördlingen: 1. Jahrhunderthälfte) oder bereits im 16. Jahrhundert (Freiburg im Breisgau: 4. Jahrhundertviertel; Kolmar: 2. Jahrhunderthälfte, Mainz: 1600). Der Dreißigjährige Krieg stellte überall einen wichtigen Einschnitt im Gesellschaftsleben dar. Späteren Auflösungen ging stets eine längere Phase deutlich nachlassender Aktivität der Mitglieder voran.

Die Nürnberger Gesellschaft - zumal mit ihrem bereits unter Zeitgenossen prominenten Mitglied Hans Sachs - nahm über den gesamten Zeitraum ihres Bestehens hinweg eine führende Rolle ein. In anderen Orten hingen Gründung und Ausbau oft sehr stark am Engagement einzelner Person (Kolmar: Georg Wickram [ca. 1505-ca. 1562]; Breslau: Adam Puschman [ca. 1531/32-1600]).

Der soziologisch auffallende Tatbestand, dass weithin Handwerker als Träger auftreten, kann nur im weiteren Horizont der gesamten Literatursituation in der spätmittelalterlichen Stadt erklärt werden. Dabei ist insbesondere das Gesamtbild der im Spätmittelalter bestehenden, sich jedoch zunehmend ausweitenden Möglichkeiten der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu "literarischer" Kommunikation zu berücksichtigen. Den Meistersingern bot sich mit ihrer - zumal durch Alter und Herkunft legitimierten - "Kunst" eine noch relativ unaufwändig zu ergreifende Möglichkeit der Produktion von eigenen Texten (die weithin an mündliche Vortragskommunikation unter Anwesenden gebunden waren und dazu fast nur hand-, signifikant seltener druckschriftlich verbreitet wurden), die Gelegenheit zur Einübung in Lesen und Schreiben gaben, zu Aufnahme und Verbreitung lebenspraktisch relevanten Sach- und theologischen Wissens. Dies diente nicht zuletzt dem Erwerb spezifisch "literarischen" Ansehens in ihrer Gruppe.

Organisation des Singschulbetriebs

Die Liedproduktion der Meistersinger zielte auf den Vortrag des Liedes im "Gemerk". In diesen teils öffentlichen, teils internen Aufführungsveranstaltungen (in zeitgenössischer Begrifflichkeit "Singschulen", für die in Nürnberg nach Freisingen, Hauptsingen und Zechsingen unterschieden wird; andere Gesellschaften erreichen einen solchen Differenzierungsgrad meist nicht) konkurrierten die Sänger im geselligen Wettstreit miteinander um einen ausgeschriebenen Preis. Dabei konnte sich ihr Beitrag im Minimalfall auf den Vortrag eines übernommenen Textes in einem übernommenen Ton beschränken.

Der Gewinner wurde von in der Regel vier anerkannten Mitgliedern auf der Grundlage schriftlich fixierter Anweisungen, den Tabulaturen, bestimmt. Diese Tabulaturen lieferten gegen ein verbreitetes Missverständnis keine diskursiv ausformulierten Anleitungen, nach denen sich Meisterlieder verfertigen ließen, sondern beschrieben lediglich Fehlertypen und legten deren Schwere fest. Die Tabulaturen sind damit Ausdruck einer tendenziell restriktiven Poetik, die sich zudem zum - aus der älteren Sangspruchdichtung übernommenen - Prinzip der Gattung fügt, einen einmal vorgegebenen (selbst erfundenen oder von einem anderen "Meister" übernommenen) Sangspruchton wiederverwenden und neue Texte in ihn einpassen zu können. Auch wenn der Ton eine Schöpfung des Textdichters war, durfte ausgefeilte Text-Ton-Kongruenz allein im allerersten Text erwartet werden, indes nur noch bedingt für alle späteren. Der Grundidee nach wurde also im Gemerk honoriert, sich in Vorgegebenes auf richtige Art einzupassen - ohne dass das individuellen Gestaltungsfreiraum jedoch ausschloss.


Neben den Tabulaturen geben "Singschul"-Protokolle Einblick in den Ablauf der Konzerte, die sich u. a. aus Nürnberg und Augsburg erhalten haben. Die öffentlichen Konzerte wurden durch Aushänge angekündigt ("Postenbriefe"). Der Aufführungsort konnte zum entsprechenden Zeitpunkt durch Aushängen einer Tafel/eines Bildes mit einer repräsentativ-idealen Selbstdarstellung der Gesellschaft markiert sein. Die Organisation der Singschulen ist auch damit sehr voraussetzungsreich. Nicht zuletzt ihr diente die Gründung von "Gesellschaften" - mit je eigenen Satzungen und Durchführungsbestimmungen -, aber auch der Absegnung des Geschehens durch die städtischen Obrigkeiten. Über das Gesellschaftsleben über Konzerte hinaus geben von Fall zu Fall weitere Quellen Auskunft, in Freiburg etwa die Rechnungsbücher (Verzeichnis von Ein- und Ausgaben). Noch nicht systematisch untersucht und reflektiert sind die Wege und Aufnahmeverfahren der Mitglieder einer Gesellschaft; mancherorts wurden Beiträge erhoben.


Meisterlieder

Die Lieder waren für den Gesangsvortrag bestimmt und wurden in Sangspruch- oder Meisterliedtönen verfasst, die Strophen- wie Versbau und die Melodie vorgaben. Sie waren mehrstrophig und von ungerader Strophenzahl mit mindestens drei Strophen. Die Strophen folgten dem Kanzonenschema (AAB) mit zwei Stollen im Aufgesang (A) und dem Abgesang (B).

Hans Sachs, der berühmteste und produktivste Meistersinger. Holzschnitt von Michael Ostendorfer (gest. 1559). (aus: Ernst Mummendorf, Der Handwerker in der deutschen Vergangenheit, Jena 1924, 124)

Inhaltlich behandelten die Meisterlieder, von denen sich über 12.000 erhalten haben, überwiegend religiöse Themen, wobei insbesondere nach der Reformation - auf diese hatte Hans Sachs den Meistergesang ausgerichtet - die Versifikation der Bibel im Vordergrund stand. Dazu handelten poetologische Lieder etwa auch von der "kunst" der "meister" selbst; daneben wurden weltliche Erzählstoffe versifiziert, Rätsel ins Lied gebracht u.a.m. Lediglich politische Gegenstände fehlen vollständig. Produktivster Meister war der Nürnberger Sachs mit etwa 4.300 Meisterliedern, gefolgt vom Nürnberger Magister Ambrosius Metzger mit über 3.000 Liedern.

Quellen

Die handschriftliche Textüberlieferung der Meisterlieder verzeichnet vollständig der erste Band des "Repertoriums der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts" (RSM). Der Textbestand der Meisterlieder ist im jüngeren Teil des RSM (ab Bd. 6) erfasst. Autoren des 15. Jahrhunderts erscheinen hingegen noch im älteren Teil (Bd. 3-5). Soweit Textausgaben oder Abdrucke zu einem Meisterlied vorliegen, sind diese im jeweiligen Artikel des RSM aufgeführt. Über die im 15. Jahrhundert zunächst schmalere, dann jedoch ansteigende Überlieferung von Melodien informiert - soweit die Handschriften den Melodien auch Texte beigeben - ebenfalls der RSM-Überlieferungsband. Ediert sind v. a. die Melodien des 15. Jahrhunderts (Brunner/Hartmann 2010), die späteren kaum. Ein dem RSM vergleichbares Repertorium, das die einschlägigen Quellen zum weiteren Gesellschaftsleben erfasst, ist ein Desiderat. Zahlreiche Hinweise zu den erhaltenen Schulordnungen, Tabulaturen und Singschulprotokollen sind vor allem den Arbeiten von Bert Nagel (1907-2000) 1971 und Willibald Nagel (1863-1929) 1909 zu entnehmen.

Rezeption

Jakob Grimm, Ueber den altdeutschen Meistergesang, Göttingen 1811. (Bayerische Staatsbibliothek, P.o.germ. 521 k)

Von den Zeitgenossen wurde die exklusiv-traditionsbestimmte, zeitgenössischen literarischen Entwicklungen nur begrenzt aufgeschlossene Liedpraxis der Meistersinger durchweg eher belächelt. Lieder in Meistertönen wurden jedoch auch im Druck verbreitet und brachten es dort in Einzelfällen zu beachtlicher Reichweite, wie Martin Maiers (geb. 1510) "Ritter aus der Steiermark" im Herzog-Ernst-Ton. Aus den wenigen wohlgesonneneren Darstellungen ragt das "Buch von der Meistersinger holdseligen Kunst Anfang, Fortübung, Nutzbarkeiten und Lehrsätzen" (in: "De civitate Noribergensi commentatio", Altdorf 1697) des Altdorfer Professors für Öffentliches Recht und Geschichte Johann Christoph Wagenseil (1633-1705) durch Ausführlichkeit und relative Quellennähe heraus. Die Ausführungen des barocken Universalgelehrten sind zwar von historisch begrenztem Aufschlusswert, wirken jedoch bis zu Jean Paul (1763-1825), E. T. A. Hoffmann (1776-1822) und Richard Wagner (1813-1883) (u. a. "Die Meistersinger von Nürnberg", 1868) nach.

Eine eigene Rolle spielte in der literarischen Rezeption Hans Sachs - insbesondere unter den Stürmern und Drängern, die sich gar "vor seinem Genius [beugen]" (Ferdinand Eichler, Das Nachleben des Hans Sachs, 1904, 182; vgl. v. a. Johann Wolfgang Goethe, "Erklärung eines alten Holzschnittes, vorstellend Hans Sachsens poetische Sendung", 1776).

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Meistergesang begann mit den Anfängen der Germanistik als Fachdisziplin (Jacob Grimm, Über den altdeutschen Meistergesang, 1811) und ist seither nicht abgebrochen, ja sogar zeitweise in Amerika (Archer Taylor [1890-1973]) intensiv betrieben worden. Seit den späten 1960er Jahren ist eine nachhaltige Umorientierung zu verzeichnen, die sich durch konsequente Ausrichtung am tatsächlich Überlieferten auszeichnet. Sie ist eng mit dem Namen Horst Brunner (geb. 1940) verbunden. Ihr wichtigstes Ergebnis ist das 2009 abgeschlossene "Repertorium" (RSM).

Würdigung

Szene aus der Oper "Die Meistersinger von Nürnberg" von Richard Wagner (1813-1883). Foto von Joseph Albers (1825-1886) nach einem Gemälde von Michael Echter (1812-1879). (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv port-021474)

Sofern die Meistersinger nicht im Blick auf die - dann nach ahistorischen Kriterien beurteilte - Beschaffenheit ihrer Liedproduktion verachtet, sondern geschätzt wurden, gründete diese Anerkennung bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein oft auf einem binären Wahrnehmungsschema, das zwischen Ethik und Ästhetik unterscheidet. Ästhetisch betrachtet wurden die Leistungen regelmäßig als gering veranschlagt, nach ethisch-moralischen Gesichtspunkten hingegen aber für wertvoll angesehen, da die Kunst der Meistersinger "aufrichtig" und "ehrlich" gemeint gewesen sei. Der Weg von dort zu nationalistischer Hochschätzung des typisch "Deutschen" war kurz. Nicht zufällig war Wagners "Die Meistersinger von Nürnberg" Adolf Hitlers (1889-1945) Lieblingsoper.

Die nach 1945 geistesgeschichtlich ausgerichtete Forschung hat zu keinem klaren eigenen Urteil gefunden. Seit den späten 1960er Jahren werden die Meistersinger dezidiert aus sozial- und bildungsgeschichtlichem Blickwinkel betrachtet. Es wurde dann betont, dass zuvor "literaturferne" städtische Gesellschaftsschichten hier erstmals einen eigenen Zugang zu literarischer Betätigung und in Verbindung damit auch zu Wissensbereichen gewannen, die ihnen zuvor nahezu völlig unzugänglich waren.

Eingedenk vergleichbarer Phänomene auch andernorts im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa könnten Entstehung und Erfolg des Meistergesangs in einem weitergespannten komparatistischen Rahmen zukünftig auch in kulturwissenschaftlich-medienhistorischer Perspektive besonderes Gewicht gewinnen. Einerseits hat der Meistergesang nämlich Anteil an der allenthalben voranschreitenden Verbreitung des Mediums Schrift in der frühneuzeitlichen Gesellschaft und insbesondere ihrer Städte; andererseits hält er exemplarisch die Grenzen des allgemeinen Verschriftlichungsprozesses bewusst. So zeigt sich an ihm eine anhaltend-ausgeprägte "Traditions-Angewiesenheit" einzelner gesellschaftlicher Gruppen insbesondere unterhalb der gelehrten und der Führungsschichten. Die ihre eigene Praxis explizit in der Vergangenheit verankernde Rückbindung der Meistersinger an ihre hoch- und spätmittelalterlichen Vorgänger hebt zudem ein spezifisches Problem frühneuzeitlicher Literatur ins Bewusstsein: Die herbeizitierte literarische Vorleistung war ihr doch nur in begrenztem Umfang verlässlich einsehbar.

Literatur

  • Michael Baldzuhn, The Companies of 'Meistergesang' in Germany, in: Arjan van Dixhoorn/Susie Speakman Sutch (Hg.), The Reach of the Republic of Letters. Literary and Learned Societies in Late Medieval and Early Modern Europe (Brill's Studies in Intellectual History 168), Leiden/Boston 2008, 219-255.
  • Michael Baldzuhn, Vom Sangspruch zum Meisterlied. Untersuchungen zu einem literarischen Traditionszusammenhang auf der Grundlage der Kolmarer Liederhandschrift (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 120), Tübingen 2002.
  • Horst Brunner, Meistergesang, in: Klaus Weimar [u. a.] (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. 2. Band, Berlin/New York 1997-2003, 554-557.
  • Horst Brunner, Die alten Meister. Studien zu Überlieferung und Rezeption der mittelhochdeutschen Sangspruchdichter im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 54), München 1975.
  • Horst Brunner, Stand und Aufgaben der Meistergesangsforschung, in: Friedhelm Brusniak/Horst Leuchtmann (Hg.), Quaestiones in musica. Festschrift für Franz Krautwurst zum 65. Geburtstag, Tutzing 1989, 33-47.
  • Uta Dehnert/Senta Herkle, Die Ulmer Meistersingergesellschaft in interdisziplinärer Perspektive. Konstitution - Ordnung - Meisterlieddichtung, in: Ulm und Oberschwaben. Zeitschrift für Geschichte, Kunst und Kultur 59 (2015), 76-109.
  • Reinhard Hahn, Meistergesang, Leipzig 1985.
  • Robert White Linker, Music of the Minnesinger and Early Meistersinger: a Bibliography (University of North Carolina Studies in the Germanic Languages and Literatures 32), Chapel Hill 1962, unv. Nachdruck New York 1966.
  • Dieter Merzbacher, Meistergesang in Nürnberg um 1600. Untersuchungen zu den Texten und Sammlungen des Benedict von Watt (1569-1616) (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 39), Nürnberg 1987.
  • Bert Nagel (Hg.), Der deutsche Meistersang (Wege der Forschung 148), Darmstadt 1967.
  • Bert Nagel, Meistersang (Sammlung Metzler 12), Stuttgart 2. Auflage 1971.
  • Johannes Rettelbach, Variation, Derivation, Imitation. Untersuchungen zu den Tönen der Sangspruchdichter und Meistersinger (Frühe Neuzeit 14), Tübingen 1993.
  • Frieder Schanze, Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 82/83), München 1983/84.
  • Eva Schumann, Stilwandel und Gestaltveränderung im Meistersang. Vergleichende Untersuchungen zur Musik der Meistersinger (Göttinger musikwissenschaftliche Arbeiten 3), Göttingen 1972.
  • Irene Stahl, Die Meistersinger von Nürnberg. Archivalische Studien (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 33), Nürnberg 1982.
  • Archer Taylor, The Literary History of Meistergesang, New York/London 1937.
  • Johannes Karl Wilhelm Willers, Hans Sachs und die Meistersinger in ihrer Zeit, Nürnberg 1981.

Quellen

  • Horst Brunner u. a. (Hg.), Die Schulordnung und das Gemerkbuch der Augsburger Meistersinger (Studia Augustana 1), Tübingen 1991.
  • Horst Brunner/Johannes Rettelbach (Hg.), Die Töne der Meistersinger. Die Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg Will III. 792, 793, 794, 795, 796 (Litterae. Göppinger Beiträge zur Textgeschichte 47), Göppingen 1980.
  • Horst Brunner/Karl Günther Hartmann (Hg.), Spruchsang. Die Melodien der Sangspruchdichter des 12. bis 15. Jahrhunderts (Monumenta monodica medii aevi 6), Kassel 2010.
  • Horst Brunner/Burghart Wachinger (Hg.), Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts, Tübingen 1986-2009.
  • Eva Klesatschke/Horst Brunner (Hg.), Meisterlieder des 16. bis 18. Jahrhunderts (Frühe Neuzeit 17), Tübingen 1993.

Weiterführende Recherche

Externe Links

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Meistersang, Meistergesang

Empfohlene Zitierweise

Michael Baldzuhn, Meistersinger, publiziert am 08.01.2018; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Meistersinger (29.03.2024)