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Liederbuch des Hartmann Schedel

Aus Historisches Lexikon Bayerns

Titel oder Motto der Musiksammlung: "Carmina francigenum liber hic predulcia claudit". (Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 810, fol. 1r)
Deutsches Lied samt Text, wohl der älteste Eintrag des Liederbuchs. (Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 810, fol. 1v-2r)
Eintrag einer Chanson von Gilles Binchois, die sonst nicht überliefert ist. (Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 810, fol. 71v-72r. )

von Martin Kirnbauer

Heute in der Bayerischen Staatsbibliothek verwahrte Liedersammlung des Nürnberger Arztes und Humanisten Hartmann Schedel (1440-1514), der auch Verfasser und Herausgeber der sog. Schedelschen Weltchronik war. Die Liederhandschrift, die eher dokumentarischen als aufführungspraktischen Zwecken diente, enthält fast ausschließlich weltliches Liedgut, teils französischer, teils deutscher Herkunft, darunter viele Unica und anonyme Werke. Das Schedelsche Liederbuch ist eine der bedeutendsten mitteleuropäischen Musikhandschriften des 15. Jahrhunderts.

Bedeutung

Das Liederbuch des Hartmann Schedel gehört mit knapp 130 in der Regel dreistimmigen Musikeinträgen zu den bedeutendsten Quellen mehrstimmiger weltlicher Musik aus dem deutschen Sprachbereich kurz nach der Mitte des 15. Jahrhunderts. Seinen Namen verdankt es seinem Schreiber und Besitzer Hartmann Schedel (1440-1514), einem Nürnberger Arzt und bedeutenden Humanisten, der vor allem wegen seiner umfangreichen und in weiten Teilen heute in München erhaltenen Bibliothek sowie seiner 1493 publizierten Weltchronik bekannt ist.

Entstehung

Die Entstehung der Musikhandschrift fällt in Schedels Jugendjahre. Er begann damit 1459/60, kurz vor seinem Magisterabschluss an der Leipziger Universität. Ein spätestens im Herbst 1463 erstelltes Register schloss die mit knapp 100 Musikeinträgen weitgehend gefüllte Handschrift vorläufig ab. Dann brach Schedel von Nürnberg zu einem Medizinstudium nach Padua auf. Im Anschluss an seine Rückkehr 1467 datieren eine einheitliche Folge von Nachträgen sowie einige Lied- und Texteinträge von mindestens zehn anderen Schreibern. In späterer Zeit scheint er sich mit seiner Musikhandschrift nicht mehr beschäftigt zu haben, auch fehlen darin Gebrauchsspuren.

Schicksal der Handschrift

Die kleinformatige Musikhandschrift fand als "Liber musicalis" in seiner nach modernen humanistischen Kriterien aufgestellten Bibliothek unter den "libri a paucis legendi" (Büchern, die nur von wenigen zu lesen waren) Platz. Mitsamt seiner Bibliothek gelangte sie 1552 aus Familienbesitz nach Augsburg und 1571 mit der Bibliothek Johann Jakob Fuggers (1516-1575) an die Münchner Hofbibliothek, der Vorgängerin der heutigen Staatsbibliothek. Da die genaue Herkunft bei der Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert unbekannt blieb, erhielt sie zunächst die Namen "Walthersches" und "Münchner Liederbuch", später auch in Abgrenzung zum wenige Jahre früher entstandenen Lochamer Liederbuch (Staatsbibliothek Berlin, Mus.ms. 40613) auch die Bezeichnung "Jüngeres Nürnberger Liederbuch". Die Bayerische Staatsbibliothek verwaltet die Handschrift unter der Signatur cgm 810.

Beschreibung

Die vollständig erhaltene Handschrift besteht aus 170 Blättern aus Papier (unterschiedliche Blattgröße, zwischen 10,5-12,5 x 7,4-8,5 cm, sogenanntes Oktav-Format), die in 14 regelmäßig zusammengestellten Lagen organisiert sind. Die ersten zwölf Lagen wurden vorgängig mit Notenzeilen versehen (rastriert). Die letzten beiden Lagen blieben unvorbereitet, um Liedtexte aufzunehmen; doch haben die insgesamt 25 Texteinträge mit zwei Ausnahmen keinen Bezug zu den vorne notierten Musikeinträgen. Diese Einträge sind weitgehend gleich aufgebaut: Die drei Stimmlagen Cantus, Tenor und Contratenor sind in weißer Mensuralnotation direkt aneinander schließend auf einem Lesefeld notiert. Wenn vorhanden, stehen die Texte meist im Anschluss an die Musik oder auch fortlaufend unter den Stimmen geschrieben, wobei hier in der Regel aber keine Unterlegung (Zuordnung zur Musik) zu beobachten ist. Der innere Vorderdeckel ist mit Musiksentenzen beschrieben; weitere Sentenzen (zu Musik und Medizin, Farbensymbolik usw.) finden sich auf fol. 1, wo auch der ursprüngliche Titel Schedels für seine Musikhandschrift steht: "Carmina francigenum liber hic predulcia claudit" ("Dieses Buch umschließt die allerliebsten französischen Gesänge").

Das enthaltene Repertoire

Dieser Anspielung des Originaltitels auf gleichzeitig in Frankreich beliebte preziöse Chansonniers (Liederbücher) entsprechen nicht nur das kleine Format und die Anlage der Musikeinträge, sie bestätigt sich auch im fast ausschließlich weltlichen Inhalt. Von den insgesamt knapp 130 Musikeinträgen sind etwa 75 deutsche Lieder mit ihren Texten; die übrigen Kompositionen, überwiegend französische Rondeaux (eine Chansonform mit einer komplexen textlichen und musikalischen Wiederholungsstruktur), gehören zu einem international verbreiteten Repertoire. Diese Musik ist allerdings ohne die fremdsprachlichen Texte, sondern nur mit Incipits oder - seltener - mit lateinischen Texten versehen (Kontrafaktur).

Auffallend oft werden Komponistennamen genannt: Neben weit verbreiteten Stücken von Johannes Ockeghem (ca. 1425-1497), John Bedyngham (gest. 1459/60), Gilles Binchois (ca. 1400-1460), Guillaume Dufay (ca. 1400-1474) oder Robert Morton (erw. 1457-1475) fallen besonders selten oder auch nur hier überlieferte Kompositionen von Johannes Pullois (ca. 1420-1478), Walter Frye (gest. um 1475) oder Guillaume Le Rouge (erw. 1451-1465) auf. Zu den über 20 Unica gehört auch ein Rondeau von Gilles Binchois, englische Ballades und vor allem Musik von Johannes Touront (erw. 1450-1480), der jüngst als Cantor Kaiser Friedrichs III. (reg. als römisch-deutscher König 1440-1493, Kaiser ab 1452) identifiziert werden konnte.

Neben Liedern von Conrad Paumann (ca. 1410-1473), Walter Seam, Walter de Salice, Herzog Ludwig IX. von Bayern-Landshut (reg. 1450-1479), W. Ruslem und dem Nürnberger Schulmeister Wencz Nodler (gest. 1489) sind fast alle deutschen Liedkompositionen anonym. In diesem Bestand finden sich die meisten Unica (fast 50), die das nur schmale Repertoire deutscher Lieder von der Mitte des 15. Jahrhunderts wesentlich bereichern und zudem hier in polyphonen (mehrstimmigen) Fassungen vorliegen.

Einordnung

Trotz der vielen Unica verbindet das Schedelsche Liederbuch eine Vielzahl von Konkordanzen mit zeitgenössischen Quellen, entsprechend den unterschiedlichen Repertoires zu italienischen und französischen Chansonniers wie zu nördlichen und zentraleuropäischen Musikhandschriften. Die größte Anzahl teilt es mit dem Buxheimer Orgelbuch (Bayerische Staatsbibliothek, Mus.Ms. 3725), dem es hinsichtlich des gemischten Repertoires auch am stärksten ähnelt.

Dokumentationscharakter des Liederbuchs

Auffallend ist die große Flüchtigkeit und Fehlerhaftigkeit der Einträge, der nur sehr wenige Korrekturen gegenüberstehen. Entgegen einem älteren Erklärungsversuch, dies beruhe auf einer "Niederschrift aus dem Kopfe", weisen vielfache Belege auf wenig sorgsame und kompetente Abschriften hin. Das bei Hartmann Schedel auch in anderen Bereichen bekannte umfangreiche Sammeln und Kopieren kann die Anlage seiner Musikhandschrift im Stile eines Chansonniers gut erklären. So spiegelt das Schedelsche Liederbuch das kurz nach der Mitte des 15. Jahrhunderts nördlich der Alpen zirkulierende Repertoire und ermöglicht genauere Einblicke in dessen schriftliche Überlieferung.

Literatur

  • Martin Bente u. a., Bayerische Staatsbibliothek. Katalog der Musikhandschriften. 1. Band: Chorbücher und Handschriften in chorbuchartiger Notierung (Kataloge bayerischer Musiksammlungen 5/1), München 1989, 4-12.
  • Klaus Fischer, Hartmann Schedel in Nördlingen. Das pharmazeutisch-soziale Profil eines spätmittelalterlichen Stadtarztes (Würzburger medizinhistorische Forschungen 58), Würzburg 1996.
  • Martin Kirnbauer, Hartmann Schedel und sein "Liederbuch". Studien zu einer spätmittelalterlichen Musikhandschrift (Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 810) und ihrem Kontext (Publikationen der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft II/42), Bern 2001.
  • Martin Kirnbauer, Schedelsches Liederbuch, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. Ausgabe. Sachteil, 8. Band, Kassel u. a. 1998, Sp. 1049-1054.
  • Paul Sappler, Schedels Liederbuch, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 8. Band, Berlin/New York 2., neu bearbeitete Auflage 1992, Sp. 625-628.
  • Klaus Anselm Vogel, Hartmann Schedel als Kompilator: Notizen zu einem derzeit kaum bestellten Forschungsfeld, in: Stephan Füssel (Hg.), 500 Jahre Schedelsche Weltchronik. Akten des interdisziplinären Symposions vom 23./24. April 1993 in Nürnberg, Nürnberg 1994, 73-97.

Quellen

  • Das Liederbuch des Dr. Hartmann Schedel. Faksimile (Das Erbe deutscher Musik 84/Abteilung Mittelalter 21), Kassel u. a. 1978.

Weiterführende Recherche

Externe Links

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Empfohlene Zitierweise

Martin Kirnbauer, Liederbuch des Hartmann Schedel, publiziert am 27.11.2014; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Liederbuch_des_Hartmann_Schedel (28.03.2024)