• Versionsgeschichte

Geschlechtertürme

Aus Historisches Lexikon Bayerns

Version vom 23. September 2021, 14:43 Uhr von imported>Twolf (VGWort-Link auf https umgestellt)
Ansicht von Regensburg im ausgehenden 15. Jahrhundert. Schedelsche Weltchronik von 1493, Privatexemplar des Hartmann Schedel. (Bayerische Staatsbibliothek, Rar 287, fol. 97'-98)
Die Stadt München in der Schedelschen Weltchronik von 1493. Ausschnitt aus dem Privatexemplar des Hartmann Schedel. (Bayerische Staatsbibliothek Rar 287, fol. 225'-226)
Der Goldene Turm in Regensburg. (Foto: Joachim Zeune)
Mittelalterliche Türme in der Altstadt von Regensburg. (aus: Anton Sedlmeier/Joachim Vossen [Hg.], Stadtatlas Regensburg, Regensburg 2006, S. 77)
Der Goldene Turm in Regensburg, Photogravure. (aus: Carl Theodor Pohlig, Hauskapellen und Geschlechterhäuser in Regensburg, Regensburg 1890, Vorsatzblatt)
Gasthof Goldenes Kreuz in Regensburg mit dem Geschlechterturm, Holzschnitt. (aus: Hugo von Walderdorff, Regensburg in seiner Vergangenheit und Gegenwart, Regensburg 1869)
Der Baumburger Turm in Regensburg. (Foto: Joachim Zeune)
Das Nassauer Haus in Nürnberg. (aus: Nürnberg. Die Stadt des Mittelalters, Würzburg 3. Auflage 1926, S. 8)

von Joachim Zeune

Als Statussymbol der politisch-wirtschaftlichen Oberschicht errichtete Turmbauten in spätmittelalterlichen Städten, die das adelige Befestigungsrecht zitierten und das Stadtbild wesentlich prägten. Die an Familiensitze angegliederten Türme beherbergten Kapellen, repräsentative und auch gesicherte Räume. Während im Spätmittelalter fast jede Stadt im bayerischen Raum Geschlechtertürme besaß, ist heute nur noch in Regensburg ein größerer Bestand überliefert.

Definition

Geschlechtertürme sind stadtinterne Turmbauten, die aufgrund ihrer Höhe von 20-50 m die Silhouette mittelalterlicher Städte maßgeblich mitbestimmten und die herausragende gesellschaftliche Position ihrer Inhaber veranschaulichen sollten. Errichtet wurden sie zumeist von bedeutenden lokalen Kaufmannsfamilien, oftmals mächtigen Angehörigen der städtischen Adelsschicht, die allesamt unter dem Begriff "Geschlechter" oder "Patrizier" erfasst wurden. Der Beitrag der Geschlechtertürme zur städtischen Wehrhaftigkeit wird zumeist stark überschätzt; ihnen kam allenfalls eine apotropäische, d. h. abschreckende Fernwirkung zu. In erster Linie dienten sie als weithin sichtbare Statussymbole, die - analog zu den berühmten toskanischen Geschlechtertürmen - ins Land hinein anzeigten, wer sich in der Stadt durch Reichtum und Macht auszeichnete. Fälschlicherweise werden die "Geschlechtertürme" auch als "Patrizierburgen" bezeichnet und in diesem Zusammenhang als deren Bergfriede gedeutet. Auch wird immer wieder behauptet, diese Türme hätten zur Wehrhaftigkeit und Verteidigung der Städte beigetragen. Doch diese "Patrizierburgen" waren in Ermangelung aufwändiger Verteidigungselemente allenfalls leicht befestigte, vor allem aber in sich geschlossene Ansitze bzw. Handelshäuser.

Forschungsstand

Da auf europäischer Ebene keine Überblicksforschungen vorliegen, ist noch unklar, welche regionale Verbreitung Geschlechtertürme gefunden haben. Befunde sind im zentraleuropäischen Raum nördlich und südlich der Alpen vorhanden. Weder für den gesamtdeutschen noch für den bayerischen Raum existiert ein Forschungsprojekt, das sich der wissenschaftlichen Erforschung dieser Architekturgattung widmet. In der Schweiz dagegen nähert man sich den adeligen Turmbauten z. B. in den Städten Basel und Zürich systematisch an und betreibt qualifizierte Bau- und Achivalienforschung. Bayerische Untersuchungen befassen sich allenfalls mit einzelnen Städten, lassen aber die analytischen Feinstrukturen der modernen Bau- und Geschichtsforschung meist vermissen. Positive Ausnahmen bilden u. a. die Bauforschungen an den Häusern "Vor der Grieb 1, 3 und 5" sowie am "Runtingerhaus" in Regensburg. Ansonsten existieren im gesamtdeutschen Raum allenfalls Einzeluntersuchungen (u. a. Trier; Köln; Lübeck; Mainz). Selbst die Standardwerke zur deutschen mittelalterlichen Stadt berühren die Geschlechtertürme nur peripher.

Zeitlicher Rahmen

Die im bayerischen Raum erhaltenen Geschlechtertürme wurden zwischen dem frühen 12. und dem 15. Jahrhundert gebaut, wobei die Blütezeit offenbar in den Jahrzehnten um 1300 lag. Damals nahm die Zahl der Geschlechtertürme merklich in ihrem Bestand zu. In den nachfolgenden Jahrhunderten unterlagen alle Türme gemeinsam mit ihren Ansitzen mitunter gravierenden Aus- und Umbauten. Zu den ältesten Geschlechtertürmen zählen die Regensburger Turmbauten in der Kapellengasse (frühes 12. Jahrhundert) und in der Oberen Bachgasse (zweites Viertel des 12. Jahrhunderts). Die Befunde in anderen Bundesländern sind ähnlich.

Bestand

Im bayerischen Raum haben sich nur wenige Geschlechtertürme in der für sie so charakteristischen Höhe erhalten (Regensburg, Nürnberg). Dagegen kann man den Stadtansichten des 15./16. Jahrhunderts - z. B. Hartmann Schedels (1440-1514) 1493 in Nürnberg gedruckter "Weltchronik" - entnehmen, dass fast jede bedeutende bayerische Stadt im Spätmittelalter Geschlechtertürme besaß (Amberg, Augsburg, Bamberg, Eichstätt, München, Passau, Rothenburg, Straubing, Würzburg). Allerdings weiß man von Schedel, dass nicht alle seiner Städteveduten realistische Darstellungen sind, sondern mitunter auf Fantasien oder überarbeitete Kopien zurückgehen. Nürnberg besaß um 1430 angeblich 65 Geschlechtertürme. Generell bleibt allerdings festzuhalten: Je bedeutender die Stadt war, desto mehr prägten die Geschlechtertürme ihr Erscheinungsbild.

Den größten Bestand an Geschlechtertürmen weist heute der von Kriegsbeschädigungen weitgehend verschont gebliebene, seit 2006 zum UNESCO Welterbe erklärte Altstadtbereich von Regensburg auf, wo sich an die 20 Exemplare erhalten haben, darunter der "Baumburger Turm" mit einer Höhe von knapp 28 m und der "Goldene Turm" mit einer Höhe von 42 m. Mit nur 16 m Höhe fiel der romanische Turm im "Runtingerhaus" (später "Gasthof zur Goldenen Krone") dagegen eher gedrungen aus, wurde aber um 1300 zu einem Wohnhaus umgebaut und durch einen schmalen, nun höheren Wohnturm ersetzt. Die früher ähnlich mit Türmen bestückte Altstadt von Nürnberg besitzt dagegen nur noch das "Nassauer Haus", während sich u. a. am Hauptmarkt 23, 24/26 und 28 sowie am Rathaus und am "Burggrafenschlösschen" Bauten rudimentär nachweisen lassen.

Für das "Nassauer Haus" in Nürnberg und das "Runtingerhaus" in Regensburg wird eine Erbauung um 1200 angenommen. Aus dem frühen 12. Jahrhundert bzw. zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts sollen einige Regensburger Turmbauten wie in der Kapellengasse und in der Oberen Bachgasse, aus dem späten 12. Jahrhundert der Turm in der Unteren Bachgasse in Regensburg stammen. Der "St.-Oswald-Hausturm" in der Engelsburgergasse in Regensburg wurde 1210, der Turm des Hauses "Vor der Grieb 3" etwa zeitgleich errichtet, der Turm des "Goldenen Kreuzes" am Haidplatz um 1250. Der "Goldene Turm" in der Wahlenstraße dürfte kurz darauf, um 1260, gebaut worden sein.

Funktion

Die Funktion der Geschlechtertürme lässt sich über ihre zahlreichen Analogien in nord- und mittelitalienischen Städten sowie eine Analyse des gesellschaftlichen Stands ihrer Erbauer klären. Letztere zählten als reiche Kaufleute, Handelsfamilien und alteingesessene Adelige zur wirtschaftlich-politischen Oberschicht der Stadtbevölkerung. Die hohen Turmbauten hatten vorrangig den Zweck, die innerstädtische Führungsposition dieser Familien zu veranschaulichen. Dabei waren Größe und Höhe des Turms die entscheidenden Faktoren.

Neben den Hauskapellen und repräsentativen Räumen beherbergten die Türme auch gesicherte Räume. Zumeist waren sie - zumindest im Spätmittelalter - relativ feuerfest gebaut, indem man sie mit mehreren Gewölben ausstattete. Hierdurch konnten sie auch als Zuflucht oder Verwahrungsort von wertvollen Gegenständen dienen. Kleine Festsäle vermittelten ein adeliges Wohngefühl, wie wohl auch der gesamte Turm als äußeres Zitat des adeligen Befestigungsrechtes gedeutet werden darf und somit das gehobene Selbstverständnis der Besitzer dokumentierte.

Die den Türmen in der Regel unterstellte Wehrhaftigkeit ist kritisch einzuschätzen und weitgehend zu negieren, denn die Enge der Gassen, die dichte Umbauung und der ungünstige Fallwinkel von Wurfsteinen ließen keine effiziente Verteidigung des Turmfußes zu. Vorartilleriezeitliche Schießkammern mit Schlitzscharten in den unteren Turmgeschossen fehlen. Jüngere, später eingefügte oder aufgesetzte Schießscharten für Feuerwaffen liegen, wie gut am Goldenen Turm in Regensburg (hier hussitenzeitlich bzw. aus der Zeit um 1420/30) sichtbar, so hoch, dass der Schusswinkel zur wirkungsvollen Abwehr eines Sturmangriffs durch Hakenbüchsen oder auch Armbrüste viel zu steil ausfiel. Eine gewisse Schutzfunktion erfüllte der Hocheingang, der den Zugang ins Turminnere erschwerte. Dieser Hocheingang ist, analog zum Zinnenkranz und den Schießscharten, allerdings auch als symbolisches Attribut der Wehrhaftigkeit zu interpretieren. Der Zubau eines hohen Turms an städtische Ansitze von Patriziern diente folglich der unübersehbaren Visualisierung von Macht und Ansehen.

Architektur: Wahrnehmung und Gestalt

Schon 1553 rühmte Kaspar Brusch (1518-1557) in seinem "Hodoeporicon Bavaricum" Regensburg als "urbem vere turricum dixeris esse", als Stadt, deren Charakter von den Türmen geprägt wird. Er umschrieb die Stadthäuser als "bis in luftige Höhen wie steil aufragende Burgen" gebaut. Hans Sachs (1494-1576) präzisierte dies wohl noch vor 1518, indem er Regensburg als eine Stadt "mit herrlich hohen Haeusern [...] mit Thuerm den Bergschloessern gleich" bezeichnet. Matthäus Merian (1593-1650) erläuterte 1644 im Band "Ober- und Niederbayern" seiner Topographia Bavariae, dass neben den Fürsten und Bischöfen "auch andere Herren weite Häuser vnnd Gebäw / mit ihren hohen Thürnen / wie noch zu sehen / erbawet" hätten.

Herausragendes Kriterium dieser Türme ist ihre eindrucksvolle Höhe. Dabei folgen die stets in Ansitze integrierten Türme keinem festen Baumuster. Ihre Grundgestalt konnte quadratisch ausfallen, dabei aber – je nach Wohlstand der Erbauer – beträchtliche Größenunterschiede aufweisen. Der romanische Turm des "Runtingerhauses" besaß eine Grundfläche von außen 10 x 11 m, die gemeinsam mit gekuppelten Rundbogenfenstern – Biforien – auf eine Nutzung als Wohnturm schließen lässt. Der um 1250 entstandene "Baumburger Turm" ist dagegen mit 7,6 x 9,4 m kleiner und von rechteckiger Grundgestalt, ebenso der nur wenige Jahre jüngere "Goldene Turm" mit 7,0 x 8,4 m Außengröße. Die sich hieraus ergebende lichte Weite von 5,2 x 7,4 m bzw. 4,0 x 5,0 m schließt eine Wohnnutzung oder Intensivnutzung jedweder Art weitgehend aus. Dem entspricht auch der Umstand, dass kein einziger der erhaltenen Geschlechtertürme einen bauzeitlichen Kamin aufweist.

Der Wandel in der Grundrissform von quadratischen zu längsrechteckigen Türmen geht konform mit der Beobachtung der Burgenforschung, dass die quadratischen Türme im Laufe des 13. Jahrhunderts allmählich von rechteckigen Bauten abgelöst wurden. Bei vielen Türmen beinhaltet das hohe gewölbte Erdgeschoss eine Hauskapelle, bei einigen wenigen führt die Hofeinfahrt durch das Turmuntergeschoss ("Runtingerhaus").

Auffällig ist, dass fast alle Türme an ihren straßenseitigen Schauseiten aufwändig gearbeitete zwei- bis dreiteilige Fensteröffnungen besitzen, mitunter sogar im ersten Obergeschoss eine breite Loggia, deren weite Bogenöffnung zwar in Schlechtwetterzeiten notdürftig verbrettert werden konnte, aber nur eine Sommernutzung des dahinter befindlichen Raums zuließ. Deutlich tritt hierin das Streben nach repräsentativen Bauformen zu Tage, das zu Lasten der Wehrfunktion geht.

Die interne Konzeption der Türme blieb ebenso den Vorlieben und den finanziellen Möglichkeiten des Erbauers überlassen wie die Höhe der Türme. Während vier Geschosse für jeden Turmbau vorauszusetzen sind, zeigt der Baumburger Turm im Aufgehenden eine Höhe von sieben Geschossen, der Goldene Turm sogar von neuen Geschossen, wobei beide Türme zusätzlich ein Kellergeschoss besitzen. Den oberen Abschluss bildete in der Regel ein eher symbolbehafteter Zinnenkranz mit dahinter liegendem Grabendach. Treppengiebel und Satteldach sind in der Regel spätere Zubauten.

Literatur

  • Cord Meckseper, Kleine Kunstgeschichte der deutschen Stadt im Mittelalter, Darmstadt 1982.
  • Angelika Sauerer, Die Geschlechtertürme. Stein gewordener Stolz. Wolkenkratzer des Mittelalters, in: Peter Morsbach (Hg.), Regensburg. Metropole im Mittelalter, Regensburg 2007, 212-221.
  • Jutta Sedlmeier, "Wolkenkratzer" an der Donau. Türme als Zeugen einer glorreichen Vergangenheit, in: Anton Sedlmeier (Hg.), Stadtatlas Regensburg, Regensburg 2006, 76-77.
  • Richard Strobel, Regensburger Patrizier-"Burgen" und ihr Wehrcharakter, in: Burgen und Schlösser 1971/I, 3-6.
  • Matthias Wieser, Baugeschichtliche Untersuchungen zu den romanischen Profanbauten im Regierungsbezirk Unterfranken (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte. 8. Reihe: Quellen und Darstellungen zur fränkischen Kunstgeschichte 11). Neustadt an der Aisch 1999.
  • Joachim Zeune, Wohntürme in Bayern, in: Heinz Müller (Hg.), Wohntürme (Veröffentlichungen der Deutschen Burgenvereinigung e. V.), Langenweißbach 2002, 29-47.

Weiterführende Recherche

Externe Links

Empfohlene Zitierweise

Joachim Zeune, Geschlechtertürme, publiziert am 19.04.2010; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Geschlechtertürme> (28.03.2024)