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Europapolitik der bayerischen Staatsregierungen

Aus Historisches Lexikon Bayerns

von Alexander Wegmaier

Die bayerische Europapolitik unterstützte die europäische Integration seit den späten 1940er Jahren, auch wenn der Kompetenztransfer auf die neuen europäischen Institutionen den autonomen Handlungsspielraum der Länder beeinträchtigte. Die bayerischen Staatsregierungen wollten diese Machtverschiebung ausgleichen und den Ländern auf Bundes- und europäischer Ebene Mitwirkungsinstrumente in der Europapolitik erschließen. Zusätzlich knüpften die Staatsregierungen seit den 1960er Jahren eigene Kontakte zu den europäischen Institutionen. Mit dieser Politik trug Bayern entscheidend zur Ausbildung des heutigen europäischen Mehrebenensystems bei. Seit den 1990er Jahren wird die Kompetenzausweitung der EU skeptischer gesehen und das Subsidiaritätsprinzip rückte als Maßstab in den Vordergrund bayerischer Europapolitik.

Die frühen Beziehungen zu den europäischen Institutionen (1948-1986)

Bundesstaat Europa als Ziel

Entschließung des bayerischen Landtags an die Staatsregierung vom 23. September 1948, mit der Forderung, den Gedanken der Vereinigten Staaten von Europa zu fördern. (Bildarchiv Bayerischer Landtag)

Die bayerischen Parteien übernahmen seit der unmittelbaren Nachkriegszeit die europäische Zusammenarbeit in ihre Programmatik. Sie galt als Mittel gegen den Nationalismus und den politisch-ökonomischen Bedeutungsverlust der europäischen Staaten angesichts des Aufstiegs der neuen Supermächte USA und UdSSR. Über die konkrete Konzeption (Intensität und Felder der Zusammenarbeit) und die geostrategische Rolle (Teil des Westens oder „3. Macht“ zwischen den Blöcken) gab es jedoch unterschiedliche Vorstellungen.

Der Landtag dokumentierte die Zustimmung zur europäischen Integration mit seiner Entschließung vom 23. September 1948, in der er einstimmig die Staatsregierung ersuchte, „nichts unversucht zu lassen, um den Gedanken der Vereinigten Staaten von Europa zu fördern und seine praktische Verwirklichung zu unterstützen.“

In Bayern trugen in der Folge vor allem christsoziale, katholische und föderalistische Kräfte die konkreten Schritte der europäischen Integration mit. 1968 dokumentierte die CSU den bereits seit ihrer Gründung bestehenden Konsens im Grundsatzprogramm mit der expliziten Forderung nach einem Bundesstaat Europa. Politische und gesellschaftliche Kreise, die stärker national, protestantisch oder links geprägt waren, blieben dagegen tendenziell skeptisch oder ablehnend. Eine Korrektur der europaskeptischen Haltungen setzte ab Mitte der 1950er Jahre ein, als zunächst die bayerische SPD ihre Vorbehalte gegen die wirtschaftlich-militärische Ausrichtung der Integrationsprojekte überwand. Die stark national orientierte bayerische FDP fand erst Ende der 1960er Jahre zur Bejahung der supranationalen Zusammenarbeit.

Sorge um die Länderstaatlichkeit

Die Bronzereliefs der Europa und Bavaria hingen über dem Tagungspräsidium des Senatssaals im Maximilianeum. Während die Bavaria mit dem Rautenschild auf dem Löwen als bayerischem Wappentier sitzt, reitet Europa auf dem Zeus-Stier über das Meer. Es fällt der im Vergleich zu anderen Darstellungen untypische Palmzweig in der Hand Europas auf, der als Symbol des Friedens gilt. Mit der Motivwahl stellte sich das bayerische Parlament mit der Bavaria einerseits in die staatliche Tradition des Landes und drückte andererseits mit der Europa die Hoffnung auf eine zukünftige Nachkriegsordnung im Geist der europäischen Einigung aus. (Bildarchiv Bayerischer Landtag, Foto: Rolf Poss)

Die Staatsregierung stimmte allen konkreten Einigungsschritten in der öffentlichen Debatte und im Bundesrat zu. Vor allem bei den frühen Vertragswerken (Beitritt zum Europarat 1950, Schuman-Plan 1950/1951 und Europäische Verteidigungsgemeinschaft 1952) entwickelte sich Ministerpräsident Hans Ehard (CSU, 1887–1980, Ministerpräsident 1946–1954, 1960–1962) zur wohl wichtigsten Stütze der Außenpolitik von Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU, 1876–1967, Bundeskanzler 1949–1963) im Bundesrat.

Gleichzeitig erkannte die Staatsregierung früh die Gefahr, die durch die neuen europäischen Mechanismen für den Föderalismus ausging: In der Bundesrepublik war die Beteiligung der Länder an der Rechtsetzung des Bundes in der sog. Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) unabänderlich festgeschrieben. Die europäischen Verträge berücksichtigten dies aber aufgrund ihrer „Landes-Blindheit“ (Hans-Peter Ipsen) nicht: Die Länder hatten das supranational erlassene Recht der Europäischen Gemeinschaften umzusetzen, ohne an dessen Zustandekommen mitwirken zu können.

Alle Ministerpräsidenten forderten daher im öffentlichen Diskurs einen föderalen Aufbau des künftigen Europas mit einer eigenständigen Rolle der Länder ein. Vor allem Hans Ehard, Alfons Goppel (CSU, 1905–1991, Ministerpräsident 1962–1978) und Franz Josef Strauß (CSU, 1915–1988, Ministerpräsident 1978–1988) betrieben in ihren langen Amtszeiten aus diesem Anspruch heraus ihre Europapolitik.

Beteiligung an innerdeutscher Willensbildung und eigenständige Europapolitik

Besuch des bayerischen Wirtschaftsministers Otto Schedl (CSU, 1912-1995, Staatsminister für Wirtschaft und Verkehr 1957-1970; links) bei EWG-Kommissionspräsident Walter Hallstein (CSU, 1901-1982, EWG-Kommissionspräsident 1958-1967) in Brüssel (Belgien). Foto: Marcelle Jamar, Château de Val-Duchesse, 8.6.1961. (European Communities, 1961)
Besuch von Ministerpräsident Alfons Goppel (CSU, 1905–1991, Ministerpräsident 1962–1978) beim Präsidenten der EWG-Kommission Walter Hallstein (CDU, 1901-1982, EWG-Kommissionspräsident 1958-1967) in Brüssel (Belgien). V.l.n.r.: Franz Heubl (CSU, 1924–2001, Staatsminister für Bundesangelegenheiten 1962–1978), Alois Hundhammer (CSU, 1900-1974, Staatsminister für Landwirtschaft und Forsten 1957-1969), Otto Schedl (CSU, 1912-1995, Staatsminister für Wirtschaft und Verkehr 1957-1970), Alfons Goppel und Walter Hallstein. Foto: Marcelle Jamar, 3.7.1963. (European Communities, 1963)

Gegen den drohenden Bedeutungsverlust bemühte sich die Staatsregierung zunächst in den 1950er Jahren gemeinsam mit Nordrhein-Westfalen, vom Bund mehr Informationsrechte zu erhalten und an der innerdeutschen Meinungsbildung in der Europapolitik mitzuwirken. Die Bundesregierung verwies jedoch darauf, dass die Außenpolitik nach Art. 32 GG Bundeskompetenz sei, und zeigte keine Bereitschaft, ihre eigene Rolle zu beschneiden.

Im Vorfeld der Römischen Verträge 1957 setzte Ministerpräsident Wilhelm Hoegner (SPD, 1887–1980, Ministerpräsident 1945–1946, 1954–1957) gemeinsam mit Baden-Württemberg einen „Länderbeobachter“ als Mitglied der deutschen EWG-Delegation durch, der zumindest die Information der Länder verbesserte. Als Verhandlungsführer der Länder erreichte Bayern zudem Zugeständnisse des Bundes, die eine bessere Berücksichtigung der Länderinteressen bei Entscheidungen auf EG-Ebene sicherstellen sollten (Kramer/Heubl-Absprache 1968, Länderbeteiligungsverfahren 1979).

In der Praxis blieb die Kooperationsbereitschaft der Bundesregierung trotzdem gering. Die Staatsregierung reagierte darauf zum einen mit dem Aufbau eigener Kontakte zu den europäischen Institutionen ab den 1960er Jahren. Zum anderen versuchte Bayern mit der Gründung der Europäischen Arbeitsgemeinschaften, die Regionen europaweit sichtbar zu machen und gemeinsame Interessen zu bündeln.

Ministerpräsident Goppel hatte dem 1962 neugeschaffenen Staatsminister für Bundesangelegenheiten auch die „Mitwirkung bei zwischenstaatlichen Angelegenheiten und Einrichtungen“ übertragen. Staatsminister Franz Heubl (CSU, 1924–2001, Staatsminister für Bundesangelegenheiten 1962–1978) knüpfte in der Folge ein gut funktionierendes Netzwerk zu den Mitgliedern und Spitzenbeamten der EG-Kommission.

Wechselseitige Besuche der EWG-Kommissionspräsidenten Walter Hallstein (CDU, 1901–1982, Präsident der EWG 1958–1967) und Jean Rey (1902–1983, Präsident der Europäischen Kommission 1967–1970) in München und Alfons Goppels in Brüssel (Belgien) wurden nicht nur zum politischen Austausch genutzt. Sie dienten dem Freistaat zur Demonstration bayerischer Eigenstaatlichkeit und gaben auch der Kommission ein Forum zur Darstellung ihres politischen Selbstverständnisses, bei dem sie sich auf Augenhöhe mit den nationalstaatlichen Regierungen verortete.

Die Doppelrolle der CSU als dominierende Partei in Bayern und als eigenständiger Akteur auf Bundes- und Europaebene unterstützte die Strategie der Staatsregierung. Die Parteikanäle eröffneten der bayerischen Politik breitere Möglichkeiten zur Einflussnahme auf europapolitische Entscheidungen als sie anderen Länder- oder Regionalexekutiven zur Verfügung standen.

Landespolitische Berührungspunkte: Strukturpolitik und Marktferne

Besuch des bayerischen Staatsministers für Bundesangelegenheiten Franz Heubl (CSU, 1924–2001, Staatsminister für Bundesangelegenheiten 1962–1978) bei Regionalpolitikkommissar Albert Borschette (1920-1976, Regionalpolitikkommissar 1970–1976) in Brüssel (Belgien) am 4.12.1971. Foto: Jean-Louis Debaize. (European Communities, 1971)

In der frühen Europapolitik galt die bayerische Sorge vor allem dem Erhalt der kleinteiligen Agrarstruktur und dem Ausgleich geographischer Nachteile: Mit den langen Grenzen zum Ostblock und den EFTA-Staaten (Europäische Freihandelsassoziation) Österreich und Schweiz sowie der weiten Entfernung zum industriellen Herzen der EWG zwischen Ruhr und Paris war Bayern in eine Randlage geraten.

Um für diese Probleme zu sensibilisieren, wurden Kommissare und Kommissionsbeamte vielfach nach Bayern eingeladen, z. B. 1959 Hans von der Groeben (1907-2005, Wettbewerbskommissar 1958-1967), 1968 Sicco Mansholt (1908-1995, Agrarkommissar 1958-1972), 1971 Altiero Spinelli (1907-1986, Industriekommissar 1970-1976), 1972 Albert Coppé (1911-1999, Verkehrskommissar 1970-1973), 1972 Albert Borschette (1920-1976, Regionalpolitikkommissar 1970–1976) und 1976 George Morgan Thomson (1921-2008, Regionalpolitikkommissar 1973-1977).

Die Staatsregierung wurde von der Kommission v. a. bei der Abmilderung der Marktferne durch eine aktive Infrastrukturpolitik unterstützt, z. B. durch eine Kreditzusage für den Weiterbau des Rhein-Main-Donau-Kanals. Auch die Vereinbarkeit verschiedener Grenzlandhilfen mit dem Beihilferegeln des EWG-Vertrags konnte unter großen Anstrengungen der Staatsregierung erreicht werden.

In der Agrarstrukturpolitik lehnte Bayern die Pläne des EG-Agrarkommissars Sicco Mansholt für einen schnellen Strukturwandel zugunsten großer leistungsfähiger Agrarbetriebe entschieden ab. Indirekt flossen die bayerischen Forderungen dann 1974 in das EG-Bergbauernprogramm ein, das auf Basis eines Gutachtens des Weihenstephaner Agrarwissenschaftlers Paul Rintelen (1904–1985), der eng mit dem agrarischen Netzwerk in Bayern verbunden war, erstmals die Existenz besonders förderwürdiger Bewirtschaftungsformen anerkannte.

Hochphase bayerischer Europapolitik 1986–1992

Stärkung der innerdeutschen Beteiligungsrechte und der europäischen Rolle

Mit dem Abschluss der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 erhielt die europäische Integration einen deutlichen Schub. Die Mitgliedstaaten beschlossen nicht nur die schrittweise Einführung des gemeinsamen Binnenmarktes bis 1992, sondern übertrugen der EWG auch neue Zuständigkeiten, z. B. in der Forschungs-, Umwelt-, Verkehrs- und Sozialpolitik.

Während der Vertragsverhandlungen fühlten sich die Länder erneut nur unzureichend von der Bundesregierung informiert und in ihren Interessen vertreten. Da die Vertragsratifikation im Bundesrat zustimmungspflichtig war, übten die Länder unter der Führung Bayerns starken Druck auf den Bund aus, ihre Mitwirkungsinstrumente zu verbessern. Um den Widerstand der Bundesregierung zu brechen, drohte Ministerpräsident Franz Josef Strauß dem CDU-Vorsitzenden und Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU, 1930–2017, Bundeskanzler 1982–1998) sogar mit dem Ende der Fraktionsgemeinschaft von CDU/CSU im Bundestag. Tatsächlich wurden dann im Ratifikationsgesetz die Bestimmungen des informellen Länderbeteiligungsverfahrens teilweise verbessert und vor allem in eine gesetzliche Regelung überführt.

Parallel dazu arbeitete Strauß an einer stärkeren Verankerung der Europapolitik innerhalb der Staatsregierung: 1987 wurde das Bayerische Verbindungsbüro in Brüssel eingerichtet und 1988 ein eigenständiges Staatsministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten gegründet. Zugleich gelang es Strauß 1987, den bisherigen Staatsminister für Bundesangelegenheiten Peter Schmidhuber (CSU, 1931–2020, EG-Kommissar 1987–1995) als EG-Kommissar zu installieren.

Ministerpräsident Max Streibl (CSU, 1932–1998, Ministerpräsident 1988–1993) machte die Europapolitik zu einem Schwerpunkt und ergänzte die bisherige Strategie um eine breite Zusammenarbeit mit anderen europäischen Regionen. An der von ihm 1989 initiierten Konferenzreihe „Europa der Regionen“ beteiligten sich 36 Länder und Regionen, die innerstaatlich über eine relativ starke Autonomie verfügten. Die Konferenz hob die bayerischen Forderungen nach der Verankerung des Subsidiaritätsprinzips und der Einführung eines Regionalorgans in den europäischen Verträgen auf die europäische Ebene. Auf Streibls Einladung hin sprach 1991 mit Jacques Delors (geb. 1925, Präsident der Europäischen Kommission 1985–1995) im Landtag auch zum ersten Mal ein Kommissionspräsident vor einem Länderparlament.

Maastricht als Ziel und Wendepunkt

Die bayerischen Bemühungen waren ein wichtiger Impulsgeber für Verankerung zentraler Länderforderungen im Vertrag von Maastricht 1992. Mit dem Vertrag wurde das Subsidiaritätsprinzip zum Grundsatz für die EU erhoben, nach dem staatliche Aufgaben nur dann von einer übergeordneten politischen Einheit wahrgenommen werden sollen, wenn die kleineren Einheiten sie nicht eigenverantwortlich lösen können. Zudem wurde ein Ausschuss der Regionen eingerichtet, der zwar bis heute nur beratende Funktion hat, aber die institutionelle Anerkennung der „dritten“ Ebene nach EU und Nationalstaaten bedeutete.

Innerstaatlich nutzten die Länder erneut die Zustimmungspflichtigkeit des Ratifikationsgesetzes, um ihre Position in der Europapolitik nochmals zu stärken und verfassungsrechtlich zu verankern. Im neuen „Europaartikel“ des Grundgesetzes (Art. 23) wurden dem Bundesrat weitreichende Mitwirkungsrechte zugestanden. Bei der Behandlung von Materien, die innerstaatlich ausschließliche Länderkompetenzen betreffen, kann seitdem sogar ein Vertreter der Länder die Bundesrepublik im EU-Ministerrat vertreten.

Dennoch war der Vertrag von Maastricht auch ein Wendepunkt im bayerischen Europadiskurs: Während in den 1980er Jahren lediglich die Grünen und die Republikaner der europäischen Integration skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, stellte nun mit Peter Gauweiler (CSU, geb. 1949, Landwirtschafts- und Umweltminister 1990–1994) erstmals ein Mitglied der Staatsregierung das Fortschreiten der europäischen Integration offen in Frage.

Die Beziehungen zur Europäischen Union seit 1992

Programmatische Abkehr vom Bundesstaat Europa

Franz Josef Strauß vertrat Zeit seines Lebens das Ziel eines europäischen Bundesstaats, der als gleichberechtigter Partner der USA im westlichen Lager eine eigene geopolitische Rolle spielen sollte. Ministerpräsident Max Streibl propagierte mit dem „Europa der Regionen“ ein Konzept, das sowohl eine bundesstaatlich organisierte europäische Ebene als auch starke Regionen umfasste und auf einen fortschreitenden Bedeutungsverlust der Nationalstaaten setzte.

Edmund Stoiber (CSU, geb. 1941, Ministerpräsident 1993–2007) dagegen lehnte einen europäischen Bundestaat ab. Als Vorsitzender der CSU-Grundsatzkommission stellte er 1993 im neuen CSU-Grundsatzprogramm dem „Europa der Regionen“ das „Europa der Nationen“ zur Seite und betonte die Prinzipien der „Einheit in Vielfalt“ sowie der Subsidiarität als Strukturelemente einer dreigliedrigen EU mit Ländern, Nationalstaaten und der europäischen Ebene.

Mit dem programmatischen Kurswechsel positionierte sich Stoiber bewusst als Gegengewicht zur stark proeuropäischen Politik von Bundeskanzler Helmut Kohl. Gleichwohl verlor das Leitbild des europäischen Bundesstaates in den frühen 1990er Jahren allgemein an Relevanz: Das Ende des Kalten Krieges 1989/90 hatte den äußeren Druck zur Einigung von Europa genommen, der Vertrag von Maastricht bedeutete bereits einen starken Einschnitt in die Souveränität der Nationalstaaten und auch in der öffentlichen Debatte wurden euroskeptische Stimmen stärker.

Zugleich zog Ministerpräsident Stoiber die Europapolitik der Staatsregierung näher an sich: 1994 wurde die Europapolitik vom Staatsministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten in die Staatskanzlei geholt und Stoiber ließ sich selbst für Bayern in den Ausschuss der Regionen entsenden. Als 2004 die Amtszeit des EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi (geb. 1939, Präsident der Europäischen Kommission 1999–2004) auslief, lehnte Stoiber jedoch ein Angebot von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD, geb. 1944, Bundeskanzler 1998–2005) und Frankreichs Präsidenten Jacques Chirac (1932–2019, franz. Staatspräsident 1995–2007) ab, ihn als Nachfolger zu nominieren.

Nebeneinander von integrationsfreundlichen und eurokritischeren Positionen

Besuch von Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU, geb. 1941, Ministerpräsident 1993–2007; links) bei EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso (geb. 1956, EU-Kommissionspräsident 2004-2014) am 21.3.2006 in Brüssel. Foto: Georges Boulougouris. (European Communities, 2006)

Seit den 1990er Jahren prägt ein Nebeneinander von integrationsfreundlichen und kritischeren Positionen die bayerische Europapolitik: Im Vorfeld der Euro-Einführung positionierte sich Ministerpräsident Stoiber als Mahner, der die Sorge breiter Bevölkerungsgruppen vor einer instabilen Gemeinschaftswährung aufnahm, und geriet damit mehrfach in Konflikt mit der Bundesregierung und dem CSU-Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU, geb. 1939, Bundesfinanzminister 1989–1998). Die EU-Osterweiterung (ohne die von der rot-grünen Bundesregierung forcierten Beitrittsverhandlungen mit der Türkei) wurde dagegen von der Staatsregierung als Überwindung der historischen Teilung Europas begrüßt.

1998 verankerte der Landtag im neuen Art. 3a der Bayerischen Verfassung das Bekenntnis zu einem „geeinten Europa, das demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen sowie dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist, die Eigenständigkeit der Regionen wahrt und deren Mitwirkung an europäischen Entscheidungen sichert“.

Die Staatsregierungen stimmten den europäischen Reformverträgen von Amsterdam 1997, Nizza 2001 und Lissabon 2007 im Bundesrat zu, nachdem unter dem maßgeblichen Einfluss Bayerns jeweils weitere Sicherungsmechanismen für die Länderhoheit eingezogen worden waren (z. B. Subsidiaritätskontrolle durch nationale Parlamente und Klagerecht des Ausschusses der Regionen).

Betonung der Leitkategorie Subsidiarität

Mit der fortschreitenden Kompetenzzuweisung an die EU seit dem Vertrag von Maastricht betraf die Europapolitik nicht mehr nur einzelne Aspekte der Landespolitik. Es entwickelte sich das europäische Mehrebenensystem, in dem eine Vielzahl von Politikfeldern von der europäischen Ebene beeinflusst wird. Für die Staatsregierung rückte daher die Betonung des Subsidiaritätsprinzips immer stärker in den Mittelpunkt. Unter den Schlagworten der größeren Bürgernähe und demokratischen Legitimität der Länder versuchte die Staatsregierung, den Einfluss der EU zu begrenzen.

Einzelne Verfahren zur Sicherung des Subsidiaritätsprinzips wie das Klagerecht für den Ausschuss der Regionen beim Europäischen Gerichtshof oder das Verfahren zur Subsidiaritätskontrolle (Europäischer Verfassungsvertrag bzw. Vertrag von Lissabon) wurden zwar maßgeblich von der Staatsregierung vorangetrieben. Ihre Wirksamkeit wird in der politikwissenschaftlichen Literatur jedoch unterschiedlich beurteilt.

Während die Staatsregierung zumindest über den Bundesrat an der europapolitischen Willensbildung beteiligt blieb, engte sich der autonome Gestaltungsspielraum des Landtags in vielen Bereichen durch den Einfluss europäischer Normen ein. Mit dem Parlamentsbeteiligungsgesetz erhielt der Landtag 2010 erstmals eigene Beteiligungsrechte gegenüber der Staatsregierung, die 2013 erweitert und in der Bayerischen Verfassung (Art. 70 Abs. 4) verankert wurden.

Jüngere Entwicklungen

Rede des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker (geb. 1954, EU-Kommissionspräsident 2014-2019) am 14.6.2018 im Plenum des bayerischen Landtags. Foto: Etienne Ansotte. (European Union, 2018)

Im Zuge der Finanz- und Eurokrise ab 2007 trug die Staatsregierung unter dem Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer (CSU, geb. 1949, Ministerpräsident 2008–2018) die Politik der Bundesregierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU, geb. Kasner, geb. 1954, Bundeskanzlerin 2005–2021) mit. Zugleich artikulierte die CSU aber zunehmend scharf ihre Unzufriedenheit mit der EU, die sich in kleinteiligen Detailregelungen verliere, aber auf die großen geostrategischen und ökonomischen Herausforderungen der Zeit keine Antwort finde. Vor allem im Europawahlkampf 2014 wurde das Nebeneinander von proeuropäischen und eurokritischen Positionen bei der CSU von politischen Beobachtern thematisiert.

Vergleich mit anderen Ländern und Regionen

Während die Sensibilität für die Bedeutung der Europapolitik für die Länder in Bayern seit dem Beginn des europäischen Integrationsprozesses nachvollzogen werden kann, scheinen andere deutsche Länder nach aktuellem Forschungsstand (2021) lange nur punktuell eigene Aktivitäten entwickelt zu haben: Nordrhein-Westfalen suchte etwa in den frühen 1950ern Kontakt zur Hohen Behörde der EGKS, Hamburg begann ab Mitte der 1970er mit Informationsbesuchen bei der EG-Kommission.

Der systematische Ansatz Bayerns blieb aber lange ein Alleinstellungsmerkmal. Ernst Albrecht (CDU, 1930–2014, Kabinettschef von Kommissar von der Groeben 1958-1967, EG-Generaldirektor für Wettbewerb 1967-1970) spricht in einem Zeitzeugengespräch über seine Zeit als EG-Spitzenbeamter davon, dass Bayern mithilfe der Heubl-Besuche „einen gewaltigen Einfluss auf die Willensbildung“ ausgeübt habe und „die anderen Bundesländer eigentlich kaum präsent“ gewesen seien.

Mit den Regionalreformen in Frankreich und Italien Anfang der 1970er Jahre entstanden auch in anderen EWG-Staaten regionale Institutionen. Die französischen und italienischen Regionalpolitiker waren aber wegen starker innerstaatlicher Restriktionen im Gegensatz zu Bayern fast ausschließlich auf interregionale Arbeitsgemeinschaften und die Konferenz der Gemeinden und Regionen unter dem Dach des Europarats angewiesen, um auf europäischer Ebene sichtbar zu werden. Lediglich die Bretagne konnte über ihren privatrechtlich organisierten Interessenverband CELIB (Comité d'étude et de liaison des intérêts bretons) stabilere Kontakte zu den europäischen Institutionen herstellen.

Angesichts der fortschreitenden Integration entwickelten in den 1980er Jahren zahlreiche subnationale Gebietskörperschaften (Länder, Regionen, Kommunen) eigene europapolitische Aktivitäten. Der Vertrag von Maastricht führte dann auch rechtlich zu einer Aufwertung und Anerkennung der Regionen als „Dritter Ebene“ in der Europäischen Union. Damit verbunden war allerdings auch die Inkaufnahme eines diffusen Regionenbegriffs: Dem Ausschuss der Regionen gehören Gebietskörperschaften unterschiedlichster Größe, Kompetenzausstattung und Ressourcen an – von den deutschen Ländern bis hin zu den luxemburgischen Gemeinden.

Literatur

  • Raphael Gerhardt, Agrarmodernisierung und Europäische Integration. Das Bayerische Landwirtschaftsministerium als politischer Akteur 1945–1975, München 2019.
  • Rudolf Himpsl, Europäische Integration und internationalisierte Märkte. Die Außenwirtschaftspolitik des Freistaats Bayern 1945–1975, München 2019.
  • Martin Hübler, Die Europapolitik des Freistaats Bayern. Von der Einheitlichen Europäischen Akte bis zum Amsterdamer Vertrag, München 2002.
  • Ferdinand Kramer (Hg.), Wege nach Europa (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte Band 78, Heft 1/2015), München 2015.
  • Martina Schöpfbeck, Eine Bastion konservativer Grundideen: Die programmatischen Entwicklungslinien der CSU-Europapolitik, in: Gerhard Hopp u. a. (Hg.), Die CSU. Strukturwandel, Modernisierung und Herausforderungen einer Partei. Wiesbaden 2010, 219–241.
  • Guido Thiemeyer, Stiefkinder der Integration. Die Bundesländer und die Entstehung des europäischen Mehrebenensystems 1950 bis 1985, in: Vierteljahrsheft für Zeitgeschichte 65 (2017), 339–363.
  • Laura Christine Ulrich, Wege nach Europa. Heinrich Aigner und die Anfänge des Europäischen Rechnungshofes, St. Ottilien 2015.
  • Alexander Wegmaier, Das Potential des „Mehrebenensystems“ für die Landesgeschichte, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte Band 84, Heft 1/2021, 25-75.
  • Alexander Wegmaier, „Europäer sein und Bayern bleiben“. Die Idee Europa und die bayerische Europapolitik 1945–1979, München 2018.

Quellen

Weiterführende Recherche

Verwandte Artikel

Externe Links

Empfohlene Zitierweise

Alexander Wegmaier, Europapolitik der bayerischen Staatsregierungen, publiziert am 13.12.2021; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Europapolitik_der_bayerischen_Staatsregierungen> (28.03.2024)