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Die Elf Scharfrichter

Aus Historisches Lexikon Bayerns

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Das von Thomas Theodor Heine (1867-1948) gestaltete Titelbild für das zehnte Programmheft der "Elf Scharfrichter" zeigt Marya Delvard (1874-1965, eigtl. Maria Joséphine Billère bzw. Biller) vor elf Teufelsmasken. Marya Delvard war die prominenteste Sängerin des Kabaretts. (Münchner Stadtmuseum, Sammlung Reklamekunst, Inventarnr. RK-4/11.8.1)
In einem rund 80 Plätze fassenden Rückgebäude des Hauses Türkenstraße 28 in München (im Vorderhaus befand sich der Gasthof "Zum goldenen Hirschen") eröffneten "Die Elf Scharfrichter" am 13. April 1901 ihr Theater. (Stadtarchiv München, DE-1992-FS-HB-XXIII-327)
Der Innenhof der Türkenstraße 28 auf einer Aufnahme aus dem Jahre 1903. Rechts das Theater der "Scharfrichter" mit der Eisentreppe, die in das Sekretariat im ersten Stock führte. (Foto aus Bühne und Brettl 4, 1903)
Um die Kontrolle durch die Zensurbehörde zu umgehen, durften die als geschlossener Verein organisierten "Scharfrichter" keinen Eintritt verlangen. Um dennoch Gewinne zu erzielen, verkauften sie stattdessen Garderobenscheine. Das Bild zeigt die als Garderobenschein getarnte Eintrittskarte für die erste Vorstellung der "Elf Scharfrichter" am 13. April 1901. (Staatsarchiv München, Pol. Dir. 2057/1)
Einrichtungsplan des "Scharfrichter"-Theaters vom September 1902. (Staatsarchiv München, Pol. Dir. 2057/1)
Plakatmotiv von Ernst Neumann für die erste Saison der "Elf Scharfrichter" 1901. (Veröffentlicht mit Genehmigung von Reinhold Kraft, Düren)
Programmplakat der "Elf Scharfrichter" für November 1902 mit folgenden Stücken: Contraste, Monna Nirwana, Glühhitze, Leda, sowie drei Musikalische Scenen: Sulamith und Zwei Terzette. (Stadtarchiv München, DE-1992-PL-16502)

von Judith Kemp

Das Ensemble "Die Elf Scharfrichter" war das erste Kabarett Münchens. Es existierte von 1901 bis 1904 in einem Rückgebäude in der Münchner Türkenstraße 28. Zu Mitgliedern und Mitwirkenden des Kabaretts zählten u a. Otto Falckenberg (1873–1947), Hanns von Gumppenberg (1866–1928), Eduard Graf von Keyserling (1855–1918), Frank Wedekind (1864-1918), Thomas Theodor Heine (1867–1848) und Olaf Gulbransson (1873–1958). Trotz des großen Erfolgs der Bühne existierte sie lediglich für drei Jahre. Mangelndes wirtschaftliches Geschick, unerfüllbare künstlerische Vorstellungen und immer schärfere Einschränkungen durch die Zensurbehörde führten bereits 1904 zum Niedergang des ersten Münchner Kabaretts.

Vorgeschichte

Mit dem "Chat Noir" betrat 1881 in Paris ein neues Genre die Theaterbühne: das Kabarett. Hier präsentierten Künstler aller Genres im ungezwungenen Kneipenambiente einem zahlenden Publikum ihre Kreationen. Der Erfolg des Unternehmens war immens und rief sogleich zahlreiche Nachahmer auf den Plan. Auch in Deutschland verfolgte man diese Entwicklung, doch erst nach langjährigen theoretischen Diskussionen über Sinn und Zweck der neuen Theaterform eröffnete im Januar 1901 in Berlin erstmals eine vergleichbare deutsche Bühne, Ernst von Wolzogens (1855–1934) "Buntes Theater (Überbrettl)".

In München hatte der französische Journalist und Übersetzer Marc Henry (eigtl. Achille George d’Ailly Vaucheret, 1873–1943) bereits 1898 erste Überlegungen zu einer Kabarettgründung angeregt. In den folgenden Jahren versammelte er zehn junge Künstler um sich, mit denen er 1900 das Kabarett der "Elf Scharfrichter" gründete: Otto Falckenberg (1873–1947), Leo Greiner (1876–1928) und Willy Rath (1872–1940), die als Autoren und Regisseure mitwirkten; die Grafiker Victor Frisch (1876–1939), Ernst Neumann (1871–1954) und Willy Oertel (1868–1933); den Bildhauer Wilhelm Hüsgen (1877–1962); den Rechtsanwalt Robert Kothe (1869–1947), der seinen Beruf zugunsten seiner Theaterleidenschaft aufgab und ein berühmter Lautensänger wurde; den Architekten Max Langheinrich (1869–1923), der den Theatersaal schuf, sowie den Komponisten Hans Richard Weinhöppel (1867–1928).

Die Kabarettisten organisierten sich zunächst als Verein, dessen Vorstellungen offiziell nur Vereinsmitgliedern und geladenen Gästen zugänglich waren. Auf diese Weise sollte die Zensurbehörde umgangen werden, die noch bis 1918 alle öffentlichen Theater kontrollierte. Am 13. April 1901 hob sich schließlich erstmals der Vorhang über Münchens erster Kabarettbühne.

Die Ziele der "Scharfrichter" waren weit gesteckt: Sie wollten die französische Theaterform importieren und sie "unabhängig in deutschem Boden" verwurzeln (Zitat aus den Vereinsstatuten der "Elf Scharfrichter"). In Abgrenzung zu den gängigen Stilen der gehobenen Theaterbühnen jener Zeit, dem Symbolismus und dem Naturalismus, hatten sie sich der leichten Unterhaltung verschrieben, wie sie auf den Varieté-Bühnen gepflegt wurde. Allerdings sollte dieser leichte Stil keineswegs nur kopiert, sondern künstlerisch "veredelt" werden und so der ästhetischen Erziehung der Massen dienen. Die "Scharfrichter" verstanden sich als kritische Stimme zu den gesellschaftlichen und politischen Missständen ihrer Zeit, vor allem aber als Künstler, denen ihre Bühne ein Forum zur Selbstpräsentation und Profilierung bot.

Spielbetrieb

Die blühende Münchner Kunst- und Kulturszene der Jahrhundertwende bot den idealen Nährboden für die bayerischen Kabarettpioniere. Wichtige Impulse empfingen sie von lokalen Erscheinungen wie den zahlreichen experimentellen Theatergruppen der Stadt, der Volkssängerszene und den Münchner Varietétheatern sowie von den Pariser Cabarets.

Am 13. April 1901 (und nicht wie vielerorts falsch zu lesen am 12., an dem eine öffentliche Generalprobe stattfand) eröffneten "Die Elf Scharfrichter" ihr Theater in der Türkenstraße 28 in München. Bereits drei Jahre später, im Mai 1904, fand in Berlin ihre letzte Darbietung statt. In dieser kurzen Zeitspanne präsentierten sie in fast 600 Vorstellungen 16 verschiedene Programme aus Instrumentalmusik, dramatischen Szenen, Gedichtrezitationen, Liedervorträgen, musikalischen Ensemblenummern u. a. Schnell wurden sie als Treffpunkt der Bohème zu einer wichtigen Institution innerhalb der Münchner Theaterszene und galten zwischenzeitlich sogar als die beste Bühne der Stadt (Münchner Neueste Nachrichten, 3.7.1901; Münchener Zeitung, 15.12.1901). Vier Gastspielreisen führten die "Scharfrichter" außerdem in viele Städte des deutschen Kaiserreichs (u. a. Berlin, Hamburg, Breslau) und der Habsburgermonarchie (Wien, Graz, Prag).

Verschiedene Faktoren waren dafür verantwortlich, dass die Bühne bereits nach gut drei Jahren wieder aufgegeben wurde. Von Anfang an hatte die Zensurbehörde die Vorstellungen kritisch verfolgt und schnell registriert, dass es sich bei der als Verein getarnten Gruppierung um ein öffentliches Theater mit einem regulären Kartenverkauf handelte. Bereits im Winter 1901 mussten die "Scharfrichter" daher ihren Vereinsstatus aufgeben und eine Konzession für ein gewerbliches Theater beantragen. Damit einher ging nun auch die Auflage, dem Magistrat sämtliche geplanten Texte vorzulegen. Immer wieder kam es zu Verboten politischer, vor allem aber anzüglicher Nummern. Der Rechtsruck der bayerischen Regierung im Frühjahr 1903 hatte auch auf die Programme der "Scharfrichter" massive Auswirkungen. Die restriktiven Eingriffe der Behörde in der letzten Saison 1903/1904 trugen dazu bei, dass der Spielbetrieb schließlich eingestellt wurde. Als ebenso fatal erwies sich jedoch das mangelnde wirtschaftliche Geschick der Kabarettisten. Nicht zuletzt verloren viele der Mitwirkenden die Lust, als sich im Laufe der Zeit herausstellte, dass die gesteckten künstlerischen Ziele nicht erreicht werden konnten und die Bühne mehr und mehr zu einer reinen Unterhaltungsstätte verkam.

Mitwirkende

Die meisten der bereits genannten Gründungsväter schieden nach und nach aus dem Ensemble aus. Gleichzeitig stießen laufend neue Mitglieder hinzu, darunter die Schriftsteller Hanns von Gumppenberg (1866–1928) und Heinrich Lautensack (1881–1919) sowie der Bühnenbildner Ernst Stern (1876–1954). Zu den beliebtesten Kräften der Truppe zählten die Sängerin Marya Delvard (1874-1965, eigtl. Maria Joséphine Billère bzw. Biller) und Frank Wedekind (1864–1918), der mit seinen Lautenliedern große Erfolge feierte. Zahlreiche Münchner Schriftsteller und bildende Künstler standen der Theatergruppe außerdem nahe und lieferten Textbeiträge oder Grafiken für die Programmhefte, so Eduard Graf von Keyserling (1855–1918), Thomas Theodor Heine (1867–1848), Olaf Gulbransson (1873–1958) und Bruno Paul (1874–1968).

Theater

Ihre Bleibe fanden "Die Elf Scharfrichter" in der Münchner Maxvorstadt im Rückgebäude der Türkenstraße 28. Das Anwesen befand sich damals im Besitz der Familie Sedlmayr, den Eigentümern des Franziskaner-Leistbräu. Den Umbau und die Einrichtung des Theaters besorgte der Architekt Max Langheinrich. Durch eine Garderobe von 12 qm betrat man den 65 qm großen Zuschauerraum, der Platz für 84 Personen bot und im Stil einer Kneipe mit Tischen und Stühlen eingerichtet war. Grafiken, Gemälde und die von Wilhelm Hüsgen modellierten Reliefmasken der Gründungsväter schmückten die Wände des Saals. Ein besonderes Kuriosum bildete der "Schandpfahl", eine Säule, die einen Totenschädel trug, in dem ein Henkerbeil steckte. An diesem Schandpfahl befestigten die "Scharfrichter" alles, was es in ihren Augen verdiente, angeprangert zu werden. Gespielt wurde auf einer 20 qm großen Bühne, die nach hinten von einem grauen Rundvorhang abgeschlossen wurde. Unter der Bühne befand sich der versenkte Orchestergraben mit einer Raumgröße von ca. 25 qm, in dem angeblich bis zu 15 Musiker Platz fanden. Aufgrund der beschränkten finanziellen und räumlichen Möglichkeiten war die Ausstattung der einzelnen Nummern meist sehr schlicht und man beschränkte sich auf wenige aussagekräftige Requisiten. Aufwändiger waren die vielen, teils historischen, teils phantastischen Kostüme, die in Szenen, Gedichtrezitationen und Liedern zum Einsatz kamen.

Das Anwesen Türkenstraße 28 wurde im Zweiten Weltkrieg komplett zerstört und durch einen Neubau ersetzt. Bis heute fehlt an dem Gebäude jeglicher Hinweis auf das kurzlebige, aber legendäre Theater, das an dieser Stelle einst existierte.

Repertoire

Etwa 400 Nummern gelangten im Theater der "Scharfrichter" zur Aufführung. Die wichtigsten Gattungen ihrer Bühne waren dramatische Szenen (über 50 Titel), gesprochene Solovorträge (über 40) und Nummern mit Musik, darunter vor allem deutsche und französische Sololieder (ca. 270), musikalische Ensembleszenen und dramatische Nummern mit Musik (ca. 30) sowie Instrumentalmusik (ca. 10).

Ein Großteil dieser Titel stammte von den Mitgliedern des Ensembles, darunter Hanns von Gumppenberg, der mit seinen parodistischen "Überdramen" große Erfolge feierte, Leo Greiner, der zahlreiche Liedtexte schrieb, und Hans Richard Weinhöppel, der über 100 Lieder für die "Scharfrichter" komponierte. Auf dem Programm standen darüber hinaus Szenen und Gedichte zeitgenössischer Autoren wie Eduard von Keyserling, Arthur Schnitzler (1862–1931) und Hermann Bahr (1863–1934), aber auch Werke älterer Autoren aus dem klassischen Kanon wie Hans Sachs (1494–1576), Miguel de Cervantes (1547–1616), Christoph Martin Wieland (1733–1813), Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), Joseph von Eichendorff (1788–1857) und Heinrich Heine. Inhaltlich lässt sich das Repertoire der "Scharfrichter" in drei Themenbereiche untergliedern: 1. gesellschaftskonforme (ca. 15 % des Gesamtrepertoires), 2. kritische (ca. 35 %) und 3. visionäre Darstellungen (ca. 50 %), in denen die "Scharfrichter" Alternativen zu den von ihnen beklagten Missständen skizzierten. Ideologisch sind diese visionären Themen deutlich von zwei zentralen kulturgeschichtlichen Strömungen des späten 19. Jahrhunderts geprägt: der Décadence und dem Lebenskult. Das Feindbild des Spießbürgertums kontrastieren die "Scharfrichter" mit ihrer deutlich von Friedrich Nietzsche beeinflussten Utopie einer von Freiheit, Sinnlichkeit und Naturverbundenheit geprägten Gesellschaft.

Einordnung und Rezeption

Anders als in vielen Darstellungen fälschlich kolportiert, handelt es sich bei den "Elf Scharfrichtern" nicht um ein politisches Kabarett im modernen Sinne, sondern um eine Experimentierbühne einer jungen Künstlergruppe, auf der alle Genres und Stile ausprobiert wurden. Auch der Humor spielte keineswegs eine Hauptrolle, und allenfalls kann das Groteske als die am häufigsten wiederkehrende humoristische Form benannt werden. Im Mittelpunkt stand vielmehr die ernsthafte Vermittlung künstlerischer Inhalte und modernen Gedankenguts. Beim Publikum stieß diese Ausrichtung des Theaters allerdings immer wieder auf deutlichen Widerstand, da viele das Kabarett in erster Linie als Unterhaltungsstätte verstanden, auf der allzu viel Ernst nichts zu suchen hatte.

Obwohl die Bühne der "Die Elf Scharfrichter" zwischenzeitlich als die interessanteste der Stadt galt, ist ihr Einfluss auf spätere Kabarettgruppierungen nicht nachweisbar. Einzig Frank Wedekind wirkte durch die Inhalte und den Vortrag seiner Lieder stilbildend. Die kulturhistorische Bedeutung der "Scharfrichter" ist dennoch unbestritten, markieren sie als das erste Münchner Kabarett doch einen Meilenstein in der Theatergeschichte der Stadt.

Literatur

  • Rita Frischkopf, Die Anfänge des Cabarets in der Kulturszene um 1900. Eine Studie über den "Chat Noir" und seine Vorformen in Paris, Wolzogens "Überbrettl" in Berlin und die "Elf Scharfrichter" in München, Diss. masch. Montréal 1976.
  • Peter Jelavich, Die "Elf Scharfrichter". Ein Münchener Vorbild für das Kabarett Fledermaus, in: Michael Buhrs/Barbara Lesák/Thomas Trabitsch (Hg.), Kabarett Fledermaus. 1907 bis 1913. Ein Gesamtkunstwerk der Wiener Werkstätte. Literatur. Musik. Tanz, Wien 2007, 17–29.
  • Peter Jelavich, "Die Elf Scharfrichter". The Political and Sociocultural Dimensions of Cabaret in Wilhelmine Germany, in: Gerald Chapple/Hans H. Schulte (Hg), The Turn of the Century. German Literature and Art, 1890–1915, Bonn 1981, [507]–525.
  • Judith Kemp, "Ein winzig Bild vom großen Leben." Zur Kulturgeschichte von Münchens erstem Kabarett "Die Elf Scharfrichter" (1901–1904), München 2017.
  • Heinrich Otto, Die Elf Scharfrichter. Das Münchner Künstlerbrettl 1901–1904. Geschichte, Repertoire, Who's Who, München 2004.
  • Walter Schmitz, "Die Elf Scharfrichter". Ein Kabarett in der "Kunststadt" München, in: Friedrich Prinz/Marita Krauss (Hg.), München – Musenstadt mit Hinterhöfen. Die Prinzregentenzeit 1886–1912, München 1988, 277–283.

Weiterführende Recherche

Externe Links

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Empfohlene Zitierweise

Judith Kemp, Die Elf Scharfrichter, publiziert am 16.07.2018; in: Historisches Lexikon Bayerns URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Die_Elf_Scharfrichter> (29.03.2024)