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Der Schlegel (Rüdiger von Hinkhoven, 13. Jh.)

Aus Historisches Lexikon Bayerns

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Erste Seite von Rüdiger von Hinkhovens "Der Schlegel" in einer Sammelhandschrift mit Reimpaardichtungen aus dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts. (Universitätsbibliothek Heidelberg Cod. Pal. germ. 341, lizensiert durch CC-BY-SA 3.0 DE)

von Ulla Williams

Die Ende des 13. Jahrhunderts entstandene Reimpaarerzählung „Der Schlegel“ behandelt das Thema des Undanks von Kindern gegenüber ihren Eltern. Sie beschreibt das Schicksal eines reichen Kaufmanns, der seinen Kindern sein gesamtes Vermögen überlässt in der Annahme, an seinem Lebensabend deren Fürsorge und Pflege genießen zu dürfen. Nachdem die Kinder den Vater aber nicht wie erhofft versorgen, greift dieser zu einer List: Indem er ihnen Hoffnung auf einen Schatz macht, erreicht der Vater, dass sich seine Kinder um seine Gunst bemühen und sich wieder gut um ihn kümmern. Nach dem Tod des Vaters erhalten die Kinder als Erbe eine Truhe. In dieser befindet sich der titelgebende Schlegel mitsamt einer Nachricht, dass Eltern, die so dumm sind, ihren gesamten Besitz ihren Kindern zu geben, damit erschlagen werden sollen. Als Verfasser der Dichtung gilt der Berufsschreiber Rüdiger von Hinkhoven (heute Oberhinkhofen, Gde. Obertraubling, Lkr. Regensburg); bis in die Frühe Neuzeit hinein fand die Geschichte des Schlegels in weiten Teilen Nord-, West- und Mitteleuropas Verbreitung.

Verfasser und Werk

Sicher als Dichter bezeugt ist Rüdiger von Hinkhoven nur für die im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts entstandene Reimpaarerzählung "Der Schlegel", in der er sich im fünften Vers nennt. Die bairische Sprache der Dichtung und die um 1300 einsetzende Überlieferung legen nahe, dass der Dichter mit dem in einer Regensburger Urkunde um 1286 bezeugten Berufsschreiber Rvdger hvnchhovar aus dem heutigen Oberhinkhofen identisch sein dürfte. Weitere literarische Werke sind von ihm nicht glaubwürdig bezeugt.

In seinem im Jahre 1462 fertiggestellten "Ehrenbrief" erwähnt Jakob Püterich von Reichertshausen (ca. 1400-1469) zwar von Hindihofen Maister Ruedeger als Dichter der Versnovelle "Wittig vom Jordan", in der Literatur unter dem Titel "Die Heidin" bekannt; dies dürfte jedoch nach einhelliger Forschungsmeinung eine irrtümliche Zuschreibung sein, da sich Sprache und Stil beider Dichtungen zu sehr unterscheiden. Immerhin könnte die Erwähnung seines Namens fast zweihundert Jahre später ein Hinweis darauf sein, dass Rüdiger weiterhin als Dichter Ansehen genoss.

Inhalt

"Der Schlegel" behandelt in 1199 Versen das weit verbreitete und beliebte Thema des Undanks der Kinder gegenüber ihren Eltern. Der Dichter stellt sein didaktisches Ziel vorab im Promythion der Dichtung vor: Seine Erzählung soll den Kindern lehren, sich nach dem vierten Gebot der Bibel ("Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren") zu verhalten. Sie soll aber auch – was dem Dichter ebenso wichtig erscheint – den Eltern vermitteln, dass sie sich rechtzeitig gegen den zu erwartenden Undank der Kinder zu wehren wissen.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein wohlhabender Kaufmann, der seine fünf erwachsenen Kinder, drei Söhne und zwei Töchter, großzügig ausgestattet hat. Nach dem Tod seiner Frau übergibt er den Kindern seinen ganzen Besitz in der Hoffnung, dass er seinen Lebensabend bei den Kindern verbringen kann, und er erwartet, von diesen fürsorglich behandelt und gut gepflegt zu werden. So besucht er die Kinder gleich der Reihe nach, wird von ihnen freudig empfangen und vorzüglich versorgt, wobei die Großzügigkeit gegen Ende der Runde schon etwas nachlässt.

Bei seiner zweiten Besuchsrunde zeigt sich dem Vater dann die bittere Wahrheit. Die Kinder lassen ihn unverhohlen spüren, dass er ihnen lästig wird. Der Reihe nach versagen ihm alle die Fürsorge und lassen ihn zusehends verwahrlosen. Zum Essen bekommt er nur Reste oder Speisen minderer Qualität, seine Kleidung zerlumpt. Ihm wird schmerzlich bewusst, welchen Fehler er beging, als er seinen ganzen Besitz den Kindern gab.

In diesem elenden Zustand trifft er einen guten alten Freund, der ihm einen Rat gibt, wie er sich aus der Notsituation befreien kann. Er lässt sich nach Anweisung des Freundes eine prächtige schwere Truhe zimmern, die mit fünf Schlössern und dazu passenden fünf Schlüsseln versehen wird. Einen der Schlüssel nimmt der Alte an sich und befestigt ihn, wie der Freund ihm rät, halb verdeckt an seinem Rock, so dass er noch sichtbar ist. So ausgerüstet macht er sich auf den Weg, um die dritte Besuchsrunde bei seinen Kindern zu absolvieren.

Der Rat des Freundes erweist sich als richtig. Der Schlüssel bleibt von keinem unbemerkt. Er weckt die Neugier der Kinder, die nun alle nacheinander annehmen, hinter dem Schlüssel verberge sich noch ein Schatz im Besitz des Vaters. Auf ihre Fragen hin bestätigt der Vater die Annahme. Die dritte Runde wird nun ein Wettbewerb um die Gunst des Vaters: die Kinder übertreffen sich gegenseitig bei bestmöglicher Pflege. Nie wurde ein Vater besser behandelt, vermerkt der Dichter. Die Kinder einigen sich sogar, dass der Vater jeweils ein Jahr bei jedem bleiben soll, damit keines benachteiligt wird.

Als der Vater den nahenden Tod fühlt, übergibt er die Schlüssel einem Pfarrer und vier Bürgern mit der Bitte, diese nach seinem Tode den Kindern zu geben. Nach der Beerdigung öffnen die Kinder die Truhe und finden darin nur einen Schlegel (schweren Hammer). An diesem ist ein Zettel angeheftet, auf dem geschrieben steht: Wer so töricht ist, seinen ganzen Besitz seinen Kindern zu geben und selbst Not zu leiden, soll mit diesem Schlegel erschlagen werden. Sprachlos und düpiert gehen die Kinder davon.

Zum Schluss macht der Dichter im Epimythion darauf aufmerksam, dass eine gute Freundschaft oft mehr wert sei als eine Blutsverwandtschaft, nennt den Titel der Erzählung und beendet sie mit der Mahnung, sich nicht auf ein ungewisses Spiel einzulassen. Das vierte Gebot erwähnt er nicht mehr.

Gattungszuordnung, Thematik

"Der Schlegel" wird literaturgeschichtlich der mittelalterlichen Kleinepik und innerhalb dieser der Märendichtung zugeordnet. Thematisch gehört der "Schlegel" mit seiner strengen Ausrichtung auf das didaktische Ziel zu den moralisch-exemplarischen Mären. Obwohl Rüdiger von Hinkhoven das Thema Undank der Kinder behandelt und das vierte Gebot anfangs erwähnt, zielt er in der Ausgestaltung der Erzählung jedoch auf eine ganz andere Lehre. Eindrucksvoll demonstriert er im dreifachen Durchlauf, jeweils fünffach wiederholt, den Egoismus, die Gier und die Herzlosigkeit der Nachkommen und legitimiert dadurch vollends die listige Revanche des Alten. Versöhnung oder gar Reue im Sinne des vierten Gebots von Seiten der Kinder spielen dabei keine Rolle. Das Fazit ist die drastisch-realistische, durch die gekonnte Gestaltung Allgemeingültigkeit beanspruchende Erkenntnis, dass auf die Liebe der Kinder letztlich keinerlei Verlass sei. Überlistung und Bloßstellung der Übeltäter ist das einzig adäquate Mittel gegen ihre Verdorbenheit. Die Verlagerung der Lehre von der katechetischen Intention auf die Revanche dürfte in der stärkeren Bezugnahme des Dichters auf die Lebensumstände des wohl aus Adligen und wohlhabenden Bürgern bestehenden Publikums begründet sein. Nicht dem Sünder, sondern dem Opfer galt die Belehrung.

Überlieferung

"Der Schlegel" wurde in fünf mittelalterlichen Handschriften überliefert, die allesamt Kleinepik enthalten, größtenteils Mären. Zwei davon, Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 341 und Cologny-Genf, Bibliotheca Bodmeriana, cod. Bodm. 72 (ehemals Kalocsa, Kathedralbibliothek, Ms. 1) stammen aus dem 1. Viertel des 14. Jahrhunderts und sind somit nahe an der vermutlichen Entstehungszeit des Werks. Die dritte Handschrift, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, cod. 2885, stammt aus dem Jahre 1393; die zwei jüngsten Textzeugen sind Mitte des 15. Jahrhunderts entstanden: Dresden, Landesbibliothek, mscr. M 68 ist im Jahre 1447, Innsbruck, Landesmuseum Ferdinandeum, Cod. FB 23001 im Jahre 1456 geschrieben worden.

Quellen und Rezeption

Ein Großteil der mittelhochdeutschen Kleinepik geht auf die lateinische Exempelliteratur zurück. So ist auch der Stoff des "Schlegels" dort mehrmals bezeugt, z. B. in den Sammlungen "Compilatio singularis exemplorum" und "Scala coeli" des Johannes Gobii (ca. 1300-1350), bei Johannes Bromyard (14. Jahrhundert), Johannes Herolt (ca. 1380-1468) und Jacobus de Cessolis (14. Jahrhundert). Im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit wurde der Stoff auch von zahlreichen deutschen Autoren bearbeitet, etwa in den Schachzabelbüchern, im "Großen Seelentrost", bei Geiler von Kaysersberg (1445-1510), Johannes Pauli (ca. 1455-1530), Hans Sachs (1494-1576) (im Meisterlied und Schwank) und Martin Luther (1483-1546). In Britannien und Irland, im Baltikum, ja in ganz Nord-, West- und Mitteleuropa war der Stoff beliebt. Jacob Grimm (1785-1863) erzählt, dass ähnliche Verse wie die am Schlegel angehefteten in Schlesien und Sachsen vielerorts sogar mit einer Keule am Stadttor befestigt wurden.

Die Drastik der Lehre, die von der katechetischen Intention des vierten Gebots abkommt und stattdessen eine auf nüchtern-realistische Lebenserfahrung basierende Verhaltensweise propagiert, dürfte die Popularität dieses Stoffes im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit begründet haben, da diese Auslegung wohl vielfach der Wirklichkeit entsprach. Nach Klaus Grubmüller (geb. 1938) ragt Rüdigers von Hinkhoven Fassung des "Schlegels" durch ihre durchkomponierte und wirkungsvolle dichterische Gestaltung unter anderen Bearbeitungen des Stoffes jedoch weit heraus.

Literatur

  • Hanns Fischer, Deutsche Literatur und lateinisches Mittelalter, in: Ingeborg Glier/Gerhard Hahn/Walter Haug u. a. (Hg.), Werk – Typ – Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in der älteren deutschen Literatur. Festschrift für Hugo Kuhn, Stuttgart 1969, 17-19.
  • Hanns Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung, hg. von Johannes Janota, Tübingen 2., durchgesehene und erweiterte Auflage 1983,182-184, 390-391, 590-591.
  • Klaus Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle, Tübingen 2006, 119-121.
  • Margarete Koch, Der Schlegel. Zur Novelle von Rüdiger von Hünchoven. Kritische Ausgabe, Untersuchungen und Übersetzung (Germanistik 6), Münster 1993 (Diss. Hamburg 1961).
  • Mike Malm, Rüdeger der Hinkhofer, in: Deutsches Literaturlexikon. Das Mittelalter. Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen. 5. Band, Berlin/Boston 2013, 778-781.
  • Ulrich Seelbach, Späthöfische Literatur und ihre Rezeption im späten Mittelalter. Studium zum Publikum des 'Helmbrecht' von Wernher dem Gartenaere (Philologische Studien und Quellen 115), Berlin 1987, 147-149.
  • Ulla Williams, Rüdeger der Hinkhofer, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 8. Band, Berlin/New York 2., völlig neu bearbeitete Auflage 1992, 307-310.
  • Hans-Joachim Ziegeler, Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen (Münchener Texte und Untersuchungen 87), München/Zürich 1985, 448-450 u. ö.

Quellen

  • Klaus Grubmüller (Hg.), Novellistik des Mittelalters. Märendichtung (Bibliothek des Mittelalters 23), Frankfurt am Main 1996, 112-177, 1070-1082.
  • Paula Hefti (Hg.), Codex Dresden M 68 (Bibliotheca Germanica 23), Bern/München 1980, 182-218 (nach Dresden, Landesbibliothek, Mscr. M 68).
  • Ulrich Pretzel, Deutsche Erzählungen des Mittelalters. Ins Neuhochdeutsche übertragen (Beck'sche Schwarze Reihe 170), München 2. Auflage 1978, 84-103.
  • Sammlung kleinerer deutscher Gedichte. Vollständige Faksimile-Ausgabe des Codex FB 32001 des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum. Einführung: Norbert Richard Wolf (Codices selecti 29), Graz 1972.
  • Ursula Schmid (Hg.), Codex Vindobonensis 2885 (Bibliotheca Germanica 26), Bern/München 1985, 365-396 (nach Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2885).

Weiterführende Recherche

Externe Links

Rudiger von Hinkhofen, Rüdeger von Hinkhofen, Rudeger Heunchovaer, Rudiger von Hunchhoven

Empfohlene Zitierweise

Ulla Williams, Rüdiger von Hinkhoven: Der Schlegel, publiziert am 21.09.2016; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Rüdiger_von_Hinkhoven:_Der_Schlegel> (28.03.2024)