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Bayerische Kriegsgefangene (Zweiter Weltkrieg)

Aus Historisches Lexikon Bayerns

Version vom 7. Juni 2021, 08:36 Uhr von imported>Rittenauerd
Nach seiner Kriegsheimkehr ins oberbayerische Lenggries (Lkr. Bad Tölz) stiftete ein Soldat 1958 dieses Votivbild, dass seine Kriegsgefangenschaft in Russland thematisiert (Foto: Privat, Kapelle am Kalvarienberg, Lenggries Kirchengemeinde St. Jakob)

von Rüdiger Overmans

Anders als im Ersten Weltkrieg existierten im Zweiten Weltkrieg keine eigenständigen bayerischen Truppenteile. Dennoch gab es innerhalb der deutschen Wehrmacht aufgrund eines damals stärker als heute ausgeprägten landsmannschaftlichen Bewusstseins Soldaten, die sich als dezidiert bayerisch verstanden oder einfach nur aus Bayern kamen. Sie gerieten während der Kampfhandlungen oder erst bei Kriegsende in Gefangenschaft. Mit ihren dort gemachten Erlebnissen prägten die ehemaligen bayerischen Wehrmachtsangehörigen nach ihrer zwischen 1945 und 1956 erfolgten Heimkehr nicht nur ihre Familien und ihr engeres Umfeld. Insbesondere die Kriegsgefangenenfürsorge und die Heimkehrertransporte hatten großen Einfluss auf das soziale Gefüge und die politischen Akteure im Nachkriegsbayern.

Bayerische Soldaten in Reichswehr und Wehrmacht

Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges hatte ein bayerisches Heer existiert, das zwar in die deutschen Streitkräfte eingebunden gewesen, organisatorisch jedoch selbständig geblieben war. Insofern hatten die bayerischen Soldaten eine eigenständige Gruppe gebildet, deren Schicksal prinzipiell von dem der anderen deutschen Soldaten unterschieden werden konnte.

Im Zweiten Weltkrieg hingegen existierten keine Kontingentarmeen mehr. Die Wehrmacht bildete eine reichsweit einheitliche Organisation. Zwar rekrutierten die Verbände der Wehrmacht ihren Personalersatz vorrangig aus festgelegten Einziehungsbezirken, ausschließlich bayerische Verbände existierten dennoch nicht, weil zwischen den Einheiten eine erhebliche personelle Fluktuation bestand. Nur wenige Verbände, wie einige der Gebirgsdivisionen, können als bayerisch geprägt angesehen werden. Die Wehrmachtführung setzte die Verbände je nach ihrer militärischen Eignung ohne Rücksicht auf landsmannschaftliche Aspekte an allen Fronten ein. Da aber die Gebirgsdivisionen prädestiniert für den Einsatz in Norwegen und Finnland waren, ergab sich eine Konzentration der Gebirgsdivisionen an dieser Front. Nach Kriegsende wurden diese Verbände zur Gänze in britische Gefangenschaft überführt.

Deutsche Kriegsgefangene im April 1945 bei der Löwenbrücke in Würzburg. (Verschönerungsverein Würzburg)
Kriegsgefangene Deutsche Soldaten am Sammelpunkt in der Siechenstraße in Bamberg 1945. (Stadtarchiv Bamberg, BS (B) + 28762-3 - H001 B001)

Die Gewahrsamsmächte nahmen jedoch keine Rücksicht auf die Strukturen der Wehrmacht, insbesondere die Sowjetunion achtete sogar darauf, durch häufige Versetzungen allzu enge Kontakte zwischen den Gefangenen - und damit die mögliche Bildung von Widerstandsgruppen - zu verhindern. Für das weitere Schicksal während der Gefangenschaft erwiesen sich berufliche Ausbildungskriterien als entscheidend; Handwerker stellten eine bei allen Gewahrsamsmächten als Arbeitskräfte begehrte Gruppe dar. Sie führten deswegen in der Regel ein privilegiertes Leben, während Angehörige von Büroberufen nur als ungelernte Handlanger eingesetzt wurden.


Bayerische Spezifika

Auch wenn die Bayern in Gefangenschaft weder ein eigenständiges Kontingentheer wie im Ersten Weltkrieg noch geschlossene Verbände besaßen, existierte doch der Begriff "Bayer" nicht in einem politischen Sinne, sondern als Bezeichnung der Landsmannschaftlichkeit. Damals besaß die landsmannschaftliche Zugehörigkeit im Vergleich zu heute einen erheblich größeren Stellenwert; sie wurde u. a. auch in den militärischen Personalunterlagen vermerkt. Einem Bayern wurden generelle Eigenschaften - u. a. schneidig, mutig, aber auch ungehobelt (Lüers, Bayern, 312-317) - zugeschrieben, die ihn angeblich von einem Rheinländer oder einem Niedersachsen unterschieden.

Obwohl bisher in keiner Weise wissenschaftlich untersucht, weisen Zeitzeugenberichte darauf hin, dass sich in der Gefangenschaft informelle Gruppen auf der Basis der gemeinsamen regionalen Herkunft bildeten. "Bayerische Abende", genauso wie "Rheinische Abende", sind als gesellige Veranstaltungen für viele Lager belegt. Dabei muss allerdings offen bleiben, inwieweit es sich um Veranstaltungen für bayerische Kriegsgefangene oder um "Motto"-Abende handelte, die sich an die Gesamtheit der Gefangenen richteten.

Der einzige Ansatz expliziter politischer Bayern-Orientierung zeigte sich in den Monaten nach der Kapitulation, in denen die politische Zukunft Deutschlands noch völlig offen schien. Pläne einer Donaukonföderation oder eines unabhängigen Rheinlands kursierten. So wie aus Österreich stammende Kriegsgefangene in dieser Zeit begannen, sich auf ein politisch selbständiges Österreich hin zu orientieren, und anfingen, rot-weiß-rote Kokarden zu tragen, gaben sich auch Bayern als bayerische Separatisten zu erkennen. Als diese Pläne von der politischen Tagesordnung verschwanden, endeten auch die bayerisch-separatistischen Bekundungen.

Quantifizierende Aspekte

Da also die Bayern in den Kriegsgefangenenlagern keine eigenständige Gruppe bildeten, kann die Frage nach dem quantitativen Stellenwert des Zweiten Weltkriegs und der Kriegsgefangenschaft für die Bevölkerung Bayerns nur als Anteil eines gesamtdeutschen Schicksals ausgewiesen werden. Empirische Daten zur Zahl der bayerischen Soldaten bzw. Kriegsgefangenen liegen nicht vor, trotzdem dürfte die nachfolgende Kalkulation der Realität sehr nahe kommen: Die Bevölkerung des Deutschen Reiches betrug im Jahr 1937 ca. 70 Mio., wovon ca. 7 Mio. in Bayern in den heutigen Grenzen - ohne die bis Kriegsende zu Bayern gehörende Pfalz - lebten. Damit lag ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung bei rund 10 %.

Karte über den Verbleib bayerischer Kriegsgefangener in den europäischen Ländern und Ägypten aus dem Statistischen Jahrbuch 1947. (© Bayerisches Landesamt für Statistik)

Von insgesamt 17,3 Mio. Soldaten – nicht gerechnet die Angehörigen der Waffen-SS und der paramilitärischen Verbände - stammten 14,3 Mio. aus dem Deutschen Reich in den Grenzen von 1937. Von daher ist mit ca. 1,43 Mio. bayerischen Wehrmachtsoldaten zu rechnen. Einschließlich der Angehörigen der Waffen-SS und der paramilitärischen Verbände, die ebenfalls in Kriegsgefangenschaft überführt wurden, dürfte die Zahl der Bayern, die im Zweiten Weltkrieg als Soldaten oder in einem vergleichbaren Status eingesetzt waren, bei ca. 1,5 Mio. gelegen haben.

Von insgesamt ca. 19 Mio. Angehörigen der Wehrmacht, der Waffen-SS und der paramilitärischen Verbände gerieten ca. 11,2 Mio., d. h. rund 60 %, in Gefangenschaft. Die Zahl der Bayern darunter ist mit ca. einer Mio. zu veranschlagen. Ihre Verteilung auf die Gewahrsamsmächte und den Zeitpunkt der Heimkehr weisen die beiden nachfolgenden Tabellen aus.

Summe der in Gefangenschaft geratenen deutschen Soldaten (Angaben gerundet)
UdSSR GB USA Frankreich Sonstige Summe
Vor Transfer 3.200.000 3.700.000 3.800.000 300.000 200.000 11.200.000
Nach Transfer 3.100.000 3.700.000 3.100.000 900.000 400.000 11.200.000

Da im Sommer 1945 deutsche Kriegsgefangene in großem Umfang von einer Gewahrsamsmacht zur anderen transferiert wurden, weist obenstehende Tabelle die Zahl der Gefangenen vor und nach den Transfers aus (s. Ratza, Anzahl und Arbeitsleistung, 208). Untenstehende Tabelle weist den zeitlichen Verlauf der Gefangenschaft differenziert nach Gewahrsamsstaaten aus (Angaben gerundet; nach Ratza, Anzahl und Arbeitsleistung, 194-197):

Zahl der in Gefangenschaft lebenden deutschen Soldaten nach Gewahrsamsmächten
UdSSR GB USA Frankreich Sonstige Summe
1945 1.450.000 560.000 2.530.000 700.000 270.000 5.510.000
1946 1.070.000 630.000 70.000 590.000 230.000 2.590.000
1947 840.000 250.000 - 360.000 150.000 1.600.000
1948 500.000 - - 20.000 60.000 580.000
1949 80.000 - - 10.000 - 90.000

Im Laufe der Jahre 1945 bis 1956 kehrten die deutschen Kriegsgefangenen nach Hause zurück. Exakte Daten hierzu liegen weder für Gesamtdeutschland noch für Bayern vor; die in nachfolgendet Tabelle getätigte Schätzung auf der Basis der obigen Angaben von Ratza dürfte jedoch dem tatsächlichen Verlauf der Heimkehrerströme nahe kommen:

Schätzwerte zu Rückkehrern nach Jahren
Jahr Anzahl davon Bayern
bis Ende 1945 5-6.000.000 5-600.000
1946 2.000.000 200.000
1947 1.000.000 100.000
1948 1.000.000 100.000
1949 500.000 50.000
1950 70.000 7.000
1951-1956 30.000 3.000
Das von Hans Muth im Jahre 1954 aus Muschelkalk geschaffene Denkmal für die bayerischen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges am Platz der Einheit in Regensburg. (Foto: Daniel Rittenauer)

Die letzten Kriegsgefangenen kehrten 1956 heim, nachdem die Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion aufgenommen hatte. Es gehört zu den Legenden westdeutschen Geschichtsbewusstseins zu glauben, Konrad Adenauer (CDU, 1876-1967, Bundeskanzler 1949-1963) habe bei seinem Besuch in Moskau im September 1955 diese letzten deutschen Kriegsgefangenen "freigekämpft". Tatsächlich handelte es sich um eine Gegenleistung der Sowjetunion für die von ihr gewünschte Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Staaten, die sie bereits vor der Ankunft Adenauers zu erbringen bereit war.

Literatur

  • Günter Bischof/Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges. Gefangennahme - Lagerleben - Rückkehr (Kriegsfolgen-Forschung 4), Wien/München 2005.
  • Michael Fellner/Thomas Forstner/Susanne Kornacker, Flüchtlinge, deutsche Kriegsgefangene und die Militärregierung, in: Peter Pfister/Susanne Kornacker/Volker Laube (Hg.), Kardinal Michael von Faulhaber 1869-1952. Eine Ausstellung des Archivs des Erzbistums München und Freising, des Bayerischen Hauptstaatsarchivs und des Stadtarchivs München zum 50. Todestag (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 44), München 2002, 433-456.
  • Andreas Hilger, Deutsche Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion 1941-1956. Kriegsgefangenenpolitik, Lageralltag und Erinnerung (Bibliothek für Zeitgeschichte 11), Essen 2000.
  • Annette Kaminsky (Hg.), Heimkehr 1948. Geschichte und Schicksale deutscher Kriegsgefangener, München 1998.
  • Rüdiger Overmans, Das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. 10. Band, 2. Teil, München 2008, 379-507.
  • Rüdiger Overmans, "Ein untergeordneter Eintrag im Leidensbuch der jüngeren Geschichte"? Die Rheinwiesenlager, 1945, in: Hans-Erich Volkmann (Hg.), Ende des Dritten Reiches. Ende des Zweiten Weltkriegs, München 1995, 259-291.

Quellen

  • Friedrich Lüers, Die Bayern, in: Martin Wähler (Hg.), Der deutsche Volkscharakter. Eine Wesenskunde der deutschen Volksstämme und Volksschläge, Jenau 1937, 310-324.
  • Werner Ratza, Anzahl und Arbeitsleistungen der deutschen Kriegsgefangenen, in: Erich Maschke (Hg.), Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges. 15. Band: Die deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges. Eine Zusammenfassung, München 1974, 185-230.

Weiterführende Recherche

Empfohlene Zitierweise

Rüdiger Overmans, Bayerische Kriegsgefangene (Zweiter Weltkrieg), publiziert am 25.06.2013; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Bayerische_Kriegsgefangene_(Zweiter_Weltkrieg)> (28.03.2024)