Arco-Prozess, 1920
Aus Historisches Lexikon Bayerns
Der Prozess gegen den Mörder von Kurt Eisner (USPD, 1867–1919, Ministerpräsident ab 1918) fand am 15. Januar 1920 vor dem Volksgericht München statt. Am Folgetag verkündete das Gericht gegen den Angeklagten, den 22-jährigen Leutnant Anton Graf Arco auf Valley (1897–1945), das Todesurteil. Am 17. Januar begnadigte der Bayerische Ministerrat Arco-Valley zu einer lebenslangen Festungshaft, aus der er bereits 1924 entlassen wurde. 1927 wurde Arco-Valley endgültig begnadigt.
Der Mordanschlag auf Kurt Eisner
Kurt Eisner (USPD, 1867–1919, Ministerpräsident ab 1918), der Anführer der Münchner Novemberrevolution und erste Ministerpräsident des Freistaats Bayern, hatte bei der Landtagswahl vom 12. Januar 1919 eine herbe Niederlage erlitten. Die sozialistische Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) war lediglich auf 2,5 % der Stimmen bzw. drei Parlamentssitze gekommen. Am Morgen der konstituierenden Sitzung des neuen Landtags, dem 21. Februar 1919, war Eisner mit einer vorbereiteten Rücktrittsrede auf dem Weg zum Landtagsgebäude. Auf offener Straße wurde er von Anton Graf von Arco auf Valley (1897–1945) aus nächster Nähe durch zwei Pistolenschüsse in den Hinterkopf getötet.
Kurt Eisner (1867-1919). Foto: Germaine Krull (1897-1985). (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv hoff-919)
Anton Graf von Arco auf Valley (1897-1945), vor 1923. (gemeinfrei via Wikimedia Commons)
Der Attentäter
Anton Graf Arco auf Valley (1897–1945) lebte als demobilisierter Offizier und eingeschriebener Student der Rechtswissenschaften seit Herbst 1918 in München. Geboren am 5. Februar 1897 im oberösterreichischen St. Martin (Innkreis) als Sohn eines bayerischen Offiziers und einer Mutter jüdischer Abstammung, war er nach einem Notabitur in Passau mit Beginn des Ersten Weltkriegs in das Bayerische Heer eingetreten. Als Motiv für seine Tat gab der streng katholische und monarchistisch eingestellte Attentäter an, die durch Eisner verletzte Ehre des bayerischen Volkes wiederherstellen und ein Ausbreiten von Bolschewismus und Anarchie verhindern zu wollen. Die rund elf Monate bis zum Prozessbeginn verbrachte Arco-Valley im Krankenhaus links der Isar und im Gefängnis Stadelheim. Sein Leben verdankte Arco-Valley, auf den die Leibwächter Eisners mehrere Schüsse abgebeben hatten, einer von Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) ausgeführten Notoperation.
Ernst Ferdinand Sauerbruch (1875-1951). Der berühmte Chirurg berichtete in seinen Erinnerungen, dass er Graf Anton von Arco-Valley versteckt gehalten habe, um ihn vor einer Verurteilung durch ein Revolutionstribunal zu bewahren. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv port-023153)
Der Prozess vor dem Volksgericht München
Volksgerichte
Der Prozess gegen Arco-Valley fand am 15. Januar vor dem mit zwei Berufsrichtern und drei Schöffen besetzten Volksgericht München unter strengen Sicherheitsvorkehrungen statt. Den Vorsitz führte Georg Neithardt (1871–1941), der vier Jahre später auch Richter im Hitler-Ludendorff-Prozess war.
Bei den zwischen November 1918 und Mai 1924 bestehenden Volksgerichten handelte es sich um eine bayerische Besonderheit. Ursprünglich von der Regierung Eisner zur Unterbindung von Plünderungen und zur Sicherung der Revolution geschaffen, urteilten sie nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik auch über die Revolutionäre und ihre Helfer. Ihre Zuständigkeit erstreckte sich neben Staatsschutzdelikten auch auf weite Bereiche der mittleren und schweren Kriminalität. Volksgerichte zielten auf eine rasche Aburteilung des Angeklagten, wichtige Beschuldigtenrechte waren außer Kraft gesetzt. Teile der modernen Forschung bewerten die bayerische Volksgerichtsbarkeit als verfassungswidrige Ausnahmegerichte (Art. 105 Weimarer Reichsverfassung) und ihre Urteile als nichtig. Anders fiel die zeitgenössische Bewertung aus. So hatten das Reichsgericht, das Bayerische Oberste Landesgericht, das Reichsjustizministerium und die überwiegende Meinung im rechtswissenschaftlichen Schrifttum die Verfassungskonformität der bayerischen Volksgerichte festgestellt.
Anklage Mord
Zwei Tage nach dem Mord an Eisner wurden Ermittlungen aufgenommen, in deren Verlauf zahlreiche Beweise sichergestellt und Zeugenaussagen aufgenommen wurden. Da der Tathergang klar und Arco-Valley geständig war, konzentrierten sich die Untersuchungen auf etwaige Mittäter, die allerdings nicht ermittelt werden konnten. Der 1. Staatsanwalt am Landgericht München und spätere Präsident des Landgerichts München und des Oberlandesgerichts Nürnberg, Matthias Hahn (1868–1932), vertrat die Anklage gegen Arco-Valley. Laut § 211 Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) stand auf Mord als vorsätzliche Tötung eines Menschen, die "mit Überlegung" ausgeführt worden war, obligatorisch die Todesstrafe. Angesichts der eindeutigen Rechtslage und des voll geständigen Angeklagten konnte das staatsanwaltliche Plädoyer nur mit einem Antrag auf Verhängung der Höchststrafe schließen. Allerdings offenbarte der Staatsanwalt unverhohlen seine Sympathien für den Angeklagten, die Arco-Valley in weiten Teilen des Bürgertums entgegenschlug. So sah Staatsanwalt Hahn in dem hinterrücks mordenden Täter gar ein Vorbild für die junge Generation: "Wäre unsere Jugend insgesamt von solch glühender Vaterlandsliebe beseelt, wir hätten Hoffnung, mit froher Zuversicht der Zukunft unseres Vaterlandes entgegenzusehen".
Prominente Zeugen und Sachverständige
In das "Loblied" der Staatsanwaltschaft stimmte Sauerbruch ein, der dem Angeklagten vor Gericht – unter Überschreitung seiner Zeugenrolle – u.a. die "edelste Gesinnung" attestierte. Aufschlussreich ist weiter ein über Arco-Valley verfasstes psychiatrische Gutachten. Mit der Erstellung hatte das Gericht neben dem Amtsarzt des Landgerichts München I, Hermann Friedrich (1887-1928), Ernst Rüdin (1874–1952) beauftragt, damals Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik München. In entsprechenden Gutachten waren Mitglieder der Räterepublik wie Ernst Toller (USPD, 1893–1939) oder Erich Mühsam (1878–1934) pathologisiert und mit psychiatrischen Krankheitsbildern belegt worden. Über Arco-Valley äußerte sich Rüdin hingegen wohlwollend und zeigte Verständnis für die "ohnmächtige Wut außerordentlich großer Kreise gegen die Vergewaltigung durch eine revolutionäre Minorität, insbesondere durch den Fremdling Eisner". In den Verfahren gegen ehem. Mitglieder der Räteregierung verwendeten Gutachter und Gerichte den Begriff des "Fremden" stets im Zusammenhang mit Menschen jüdischer Herkunft. Schuldunfähigkeit wegen krankhafter Störung der Geistesfähigkeit nach § 51 RStGB sahen die Gutachten bei Arco-Valley nicht als gegeben an.
Ernst Rüdin, um 1935. Im "Dritten Reich" war Rüdin einer der führenden Rassenhygieniker. (gemeinfrei via Wikimedia Commonos)
Verteidigung
Die Verteidigung Arco-Valleys übernahm Anton Gänssler (1874–1922), einer der führenden Anwälte Münchens. In seinem zweistündigen Schlussvortrag plädierte Gänssler auf Freispruch, indem er eine tatsächlich wie juristisch zweifelhafte Notwehrsituation konstruierte. So sei die Tötung Eisners zum Schutz des bayerischen Staates und der Rechte jedes einzelnen Bürgers gerechtfertigt gewesen, weil Eisner unmittelbar vor der Ausrufung einer zweiten Revolution und damit der Begehung eines weiteren Hochverrats gestanden habe. Juristisch unhaltbar bezweifelte Gänssler ein Handeln mit "Überlegung", da Arco-Valley aufgrund innerer Zerrüttung vermeintlich außer Stande gewesen sei, klare Gedanken zu fassen. Neben diesen Einlassungen stand der Appell, die Sache zur Verhandlung an ein Schwurgericht mit zwölf Laienrichtern abzugeben, von dem sich der Verteidiger offenbar mehr Gehör für sein eher emotionales als juristisch fundiertes Plädoyer erhoffte.
Das Urteil
Das knapp gefasste Urteil des Volksgerichts München verurteile Arco-Valley am 16. Januar einstimmig wegen Mordes "zum Tode und in die Kosten" Die Ausführungen der Verteidigung zu einer vermeintlichen Notwehrlage wischte das Gericht mit einem Satz vom Tisch. In der Frage der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte folgte es dem positiven Täterbild der Staatsanwaltschaft. Gemäß § 32 Abs. 1 RStGB konnten Verurteilten mit Ausspruch der Todes- oder Zuchthausstrafe die bürgerlichen Ehrenrechte entzogen werden. Mit Blick auf Arco-Valley führte das Volksgericht aus, dass "von einer Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte […] natürlich keine Rede sein [könne], weil die Handlungsweise des jungen, politisch unmündigen Mannes nicht niedriger Gesinnung, sondern der glühenden Liebe zu seinem Volk und Vaterland entsprang und ein Ausfluss seines Draufgängertums und der in weiten Volkskreisen herrschenden Empörung über Eisner war […]". Dem gerichtlichen Votum kam für die Frage der Begnadigung vorentscheidende Bedeutung zu.
Begnadigung durch den Ministerrat
Am Abend des 16. Januars demonstrierten Studenten der Universität München für eine Begnadigung ihres Kommilitonen; unterstützt wurden die teils antisemitischen und reaktionären Proteste durch das Reichswehr-Gruppenkommando. Zuständig für Gnadenentscheidungen war der Ministerrat. Unter Leitung des stellvertretenden Ministerpräsidenten, Ernst Müller-Meiningen (DDP, 1866–1944, 1919-1920 Justizminister) – Ministerpräsident Johannes Hoffmann (SPD, 1867–1930) war zu diesem Zeitpunkt in Berlin – sprach sich das Gremium am 17. Januar einstimmig für die Begnadigung aus und wandelte die gegen Arco-Valley verhängte Todesstrafe in lebenslange Festungshaft um. Nicht zu belegen, wenngleich nicht unplausibel, sind vermeintliche Absprachen zwischen dem Volksgericht und dem Ministerrat über die Urteilshöhe und die nachfolgende Begnadigung. Anders war die Entscheidung nach dem einzigen Todesurteil gegen einen Führer der Räterepublik ausgefallen. Das Münchner Standgericht hatte Eugen Leviné (KPD, 1885–1919), den Vorsitzenden des Vollzugsrats der kommunistischen zweiten Räteregierung, am 3. Juni 1919 wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Hier lehnte die Regierung eine Begnadigung ab.
Ausblick: Strafvollstreckung in Landsberg
Arco-Valley verbrachte seine Haftzeit in Landsberg am Lech. Festungshaft bedeutete die ehrenvolle Form des Freiheitsentzugs, die Inhaftierten viele Freiheiten und Privilegien beließ. Die Haftbedingungen in Landsberg waren deutlich komfortabler als in Niederschönenfeld (Lkr. Donau-Ries), wo wegen Hochverrats verurteilte Mitglieder der Räterepublik ihre (Festungs-)Haftzeit verbüßten. 1923 gewährte der Ministerrat Arco-Valley eine Verkürzung der Haftzeit auf 15 Jahre, 1924 wurde seine Strafe unterbrochen; drei Jahre später wurde er vollständig begnadigt. Arco war nach seiner Haftenlassung als Prokurist bei der Süddeutschen Lufthansa und als Publizist tätig; er verstarb kurz nach Kriegsende bei einem Verkehrsunfall.
Bewertungen
Die meisten Zeitungen standen in ihrer Berichterstattung über den Prozess und die Begnadigung ganz auf Seiten Arco-Valleys, dessen Anschlag als selbstlose und patriotische Tat gewürdigt wurde; selbst die sozialdemokratische Münchener Post verurteilte Arco-Valley nicht direkt und sprach sich für die Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslange Haft aus. Kritische Töne wie sie der zum Zeitpunkt des Prozesses in München wohnhafte Victor Klemperer (1881-1960) artikulierte, blieben bis tief in die Nachkriegszeit Einzelerscheinungen.
Literatur
- Franz J. Bauer, Eduard Schmidt, Die bayerischen Volksgerichte 1918–1924. Das Problem ihrer Vereinbarkeit mit der Weimarer Reichsverfassung, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 48 (1985), 449–478.
- Daniel Baumann, "Ein Märtyrer der Revolution" – die Ermordung Kurt Eisners und das Gedenken an den ersten Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern, in: Elisabeth Angermair/Andreas Heusler (Hg.), Machtwechsel. München zwischen Oktober 1918 und Juni 1919. Eine Veröffentlichung des Stadtarchivs München, München 2020, 102–126.
- Bernhard Grau, Kurt Eisner 1867-1919. Eine Biographie, München 2001.
- Otto Gritschneider, Der Prozeß Arco. Das Strafverfahren gegen d. Mörder d. Ministerpräsidenten Kurt Eisner (Land und Leute, 78), München 1983.
- Diethard Henning, Johannes Hoffmann, Sozialdemokrat und bayerischer Ministerpräsident. Biographie, München u.a. 1990, 410–418.
- Arnd Koch, Auf dem rechten Auge blind? Vom Leviné-Prozess zum Hitler-Prozess, in: Archivalische Zeitschrift [im Erscheinen].
- Nanette von Tucher, Der Mord an Kurt Eisner durch Anton Graf von Arco auf Valley, München 2021.
- Richard F. Wetzell, Der Fall Toller. Revolution, politische Justiz und Psychiatrie, in: Annette Meyer, Julia Schreiner (Hg.), Wissenschaft – Macht – Politik. Die Münchener Revolution und Räterepublik als Experimentierfeld gesellschaftlicher Theorien, Göttingen, 142–167.
Quellen
- Begnadigung Anton Graf von Arcos (1897-1945) vom 16.1.1920 (Staatsarchiv München, Staatsanwaltschaften 2295/2).
- Victor Klemperer. Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919, Berlin 2015.
- Ministerratssitzung vom 17. Januar 1920, TOP I: Begnadigungsfall Arco.
- Hans von Pranckh (Hg.), Der Prozeß gegen den Grafen Anton Arco-Valley, der den bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner erschossen hat, München 1920.
- Ernst Müller-Meiningen, Aus Bayerns schwersten Tagen. Erinnerungen und Betrachtungen aus der Revolutionszeit, Berlin und Leipzig 1923.
- Urteil und Protokoll des Arco-Prozesses vom 16. und 15. Januar 1920. (Staatsarchiv München, Staatsanwaltschaften 2295/2).
- Ferdinand Sauerbruch, Das war mein Leben, München 1951.
Weiterführende Recherche
Externe Links
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- Räterepublik Baiern (1919)
- Revolution, 1918/1919
- Zweite Revolution, 1919
Empfohlene Zitierweise
Arnd Koch, Arco-Prozess, 1920, publiziert am 27.11.2024; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Arco-Prozess, 1920> (9.12.2024)