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Archivwesen (Spätmittelalter)

Aus Historisches Lexikon Bayerns

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Zeitgenössische Zeichnung eines Archivschranks nach der Neuordnung von Archiv und Kanzlei des Hochstifts Würzburg durch Lorenz Fries (1491-1550) im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts. (Staatsarchiv Würzburg, Ms 43)

von Joachim Wild

Archive sind damit beauftragt, die rechtserheblichen und historisch relevanten Dokumente des Archiveigners zu verwahren und zu betreuen. Im Spätmittelalter entstanden zunächst Schatzarchive (Auslesearchive), in denen nur Urkunden, die den Empfang wichtiger Rechte bewiesen, und einige wenige Verwaltungshandschriften aufbewahrt wurden. Diese Schriftstücke galten als Bestandteil des "armarium", des Schatzes. Seit dem 13., verstärkt seit dem 14. Jahrhundert entstanden die räumlich eng mit der Kanzlei verbundenen Kanzleiarchive, in denen Registraturen von Urkunden, Amtsbüchern und Schreiben verwahrt wurden. Seit Anfang des 15. Jahrhunderts wurden Archive auch inventarisiert. Eigene, spezialisierte Archivare sind im Raum des heutigen Bayern allerdings erst seit Anfang des 16. Jahrhunderts nachweisbar.

Definition

Unter Archiv versteht man eine Verwaltungseinrichtung, die beauftragt ist, die rechtserheblichen bzw. historisch relevanten Dokumente des Archiveigners zu verwahren und zu betreuen. Der Begriff Archiv schließt mit ein, dass (nur) die dem Archiveigner ausgehändigten Originaldokumente (Empfängerarchiv) bzw. das von ihm selbst zum Verbleib in der eigenen Kanzlei/im Archiv erstellte Schriftgut dort verwahrt werden, nicht aber die von ihm erstellten und an andere Personen oder Institutionen ausgehändigten Ausfertigungen. Das mittelalterliche Archiv (wie auch das frühneuzeitliche) war grundsätzlich geheim und diente nur den Bedürfnissen des Eigners. Eine Benützung durch historisch Interessierte war nie angedacht und aus Geheimhaltungsgründen ausgeschlossen. Die nachstehende Darstellung gilt gleichermaßen für die Entwicklung in Bayern, Franken und Schwaben.

Die Anfänge: Das Schatzarchiv

Älteste Ansicht der Klosterkirche Benediktbeuern vor der Barockisierung im 17. Jahrhundert in einer Buchminiatur von 1594. Das Gebäude hinter der Klosterkirche mit Satteldach beherbergte vermutlich die Sakristei und das Sacrarium des Klosters. Abb. aus: Sex picturae oleo factae ad monasterium Benedictoburanum pertinentes, Handschrift von 1594 aus dem Kloster Benedikbeuern. (Bayerische Staatsbibliothek, Clm 1085)

Nachdem im Spätmittelalter sehr rasch alle Institutionen (Landesherr, reichsfreie oder landständische Herrschaften, Bischöfe und Domkapitel, Klöster, Städte und Märkte usw.), aber auch Privatpersonen in den Besitz von Urkunden und sonstigen Dokumenten kamen, die ihre Rechte und ihren Besitz absicherten, müsste vom Prinzip her bei all diesen ein Archiv entstanden sein. Die faktische Überlieferung zeigt jedoch, dass die Wirklichkeit von der Theorie weit entfernt war.

Zur dauernden Aufbewahrung waren vor allem diejenigen Urkunden (Privilegien) bestimmt, die den Empfang wichtiger Rechte beweisen konnten; ferner einige wenige Verwaltungshandschriften wie z. B. Kopialbücher der Urkunden und Urbare. Damit wurden nur ausgewählte Stücke archiviert (Auslesearchiv) und sicherlich nicht die Summe allen Schriftwerks, das im Zuge der Verwaltung entstand. Bei den von Burg zu Burg ziehenden Landesherren wurde vermutlich eine Auswahl der für nötig erachteten Dokumente vom Kanzleipersonal in Reisetruhen stets mitgeführt. Es liegt nahe, dass dieser häufige Transport den Dokumenten sehr schadete (Nässe, Feuer, Überfälle, Plünderungen).

Bei den Bischöfen, Domstiften und Klöstern war die Situation grundlegend anders. Hier war von Anfang an eine Ortsstabilität gegeben und ein Umherziehen von Besitzung zu Besitzung nicht notwendig. Dies erlaubte auch, geeignetere Aufbewahrungsmöglichkeiten zu schaffen. Aus diesem Grund sind alle frühmittelalterlichen und der weitaus größte Teil der hochmittelalterlichen Urkunden in Bayern, Franken und Schwaben ausschließlich durch die Archive geistlicher Institutionen überliefert worden. Bei den weltlichen Herren jener Zeit hätten ähnlich große Archive vorhanden sein müssen, doch das Aussterben von Herrscherfamilien, der Verlust von Herrschaftsrechten, die häufigen Kriege sowie das Niederbrennen der Burgen haben gründliche Vernichtungsarbeit geleistet. Als große Ausnahme reicht das Archiv der Grafen von Ortenburg (Ortenberg) mit Originalurkunden bis zum Jahr 1142 zurück. Das Archiv der Wittelsbacher setzt dagegen erst um 1200 ein, wenn man von zwar älteren, aber erst in späteren Jahrhunderten aus anderen Archiven entfremdeten Urkunden einmal absieht. Die Archive der noch im Mittelalter ausgestorbenen Grafenfamilien sind gänzlich verloren.

Die wenigen Urkunden und Handschriften, die man aufbewahren wollte, wurden dem Schatz ("armarium") zugerechnet und folglich auch im Schatzgewölbe oder in einem vergleichbar sicheren Raum, z. B. in einem Turm, zusammen mit den sonstigen Wertgegenständen wie Schmuck, Geld, kostbaren Waffen und Gewändern, Handschriften usw. sicher weggesperrt. Im übertragenen Sinn meint "armarium" den juristischen Schatz zur Verteidigung der Rechte und Freiheiten des Eigners. Man kann hier noch nicht von einem Archiv im vollen Sinne sprechen, da die im "armarium" aufbewahrten Dokumente weder fachmännisch betreut wurden noch die Räumlichkeit auf Archivgut spezialisiert war. Bei geistlichen Institutionen (Domkapitel, Klöster) entsprach dem "armarium" das "sacrarium" (eingedeutscht: Sagrer), ein Raum vermutlich über bzw. bei der Sakristei, der zur Sicherung des Kirchenschatzes bestimmt war. In Kloster Benediktbeuern wurde im 13. Jahrhundert mehrfach erwähnt, dass die Abschriften der ausgehändigten Urkunden im "sacrarium" aufbewahrt würden, sicherlich bei den übrigen Urkunden des Klosters.

Kanzleiarchive

Ansicht der Burg Trausnitz auf einer Postkarte um 1911. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv port-015475)
Burg zu Burghausen. Ausschnitt aus einem Kupferstich von Michael Wening (1645-1718). Abb. aus: Michael Wening, Historico-Topographica Descriptio. Das ist: Beschreibung, deß Churfürsten- und Hertzogthums Ober- und Nidern Bayrn, Bd. 2, Das Renntambt Burgkhausen, München 1721. (Bayerische Staatsbibliothek, Hbks/F 18-2)

Anfänglich kann zwischen Kanzlei und Archiv nicht geschieden werden, denn in den Urkunden wurden nur die Kanzleibeschäftigten erwähnt, nicht aber Archivare. Seitdem im Laufe des 13. Jahrhunderts und verstärkt im 14. Jahrhundert eigentliche Kanzleien mit eigenen Kanzleiräumen entstanden, müssen - unbeschadet des Fortbestehens der Schatzarchive – schon aus Gründen der Verwaltungspraxis Registraturen von Urkunden, Amtsbüchern und gelegentlich auch von Schreiben erwachsen sein, die in der Kanzlei aufbewahrt blieben. Nach Jahrzehnten ständigen Anwachsens setzte ein Separierungsprozess ein, indem das ältere, nicht mehr laufend benötigte Schriftgut aus dem Kanzleiraum entfernt und in einen davon abgetrennten Raum gebracht wurde. Obwohl die Zeitgenossen in moderner Terminologie eher von reponierten Registraturen gesprochen haben, ist hier die Vorstufe der späteren Archive zu fassen. Die Ausbildung von Kanzleiarchiven wurde durch die Residenzenbildung verstärkt, als die Landesherren eine oder einige wenige Burgen zu bleibenden Residenzen ausgestalteten. Im Teilherzogtum Landshut waren dies die Burgen in Landshut, Burghausen (Lkr. Altötting), Ingolstadt und Neuburg a. d. Donau (Lkr. Neuburg-Schrobenhausen), wo jeweils Archivbestände nachzuweisen sind.

Archivinventare

Neues Schloss Ingolstadt. Ausschnitt aus einem Kupferstich von Michael Wening (1645-1718). Abb. aus: Michael Wening, Historico-Topographica Descriptio. Das ist: Beschreibung, deß Churfürsten- und Hertzogthums Ober- und Nidern Bayrn, Bd. 1, Das Renntambt München, München 1701. (Bayerische Staatsbibliothek, Hbks/F 18-2)

Im Laufe des Spätmittelalters kamen in den Kanzleiarchiven große Mengen an Urkunden zusammen, deren Auffinden immer mühsamer und zeitraubender wurde. In Kopialbüchern wird häufig die Mühe des Heraussuchens als ein Hauptmotiv genannt, um ein Kopialbuch anzulegen. Die Aufbewahrung der Urkunden war noch wenig effizient organisiert. Zeitgenössisch ist vor allem von der Unterbringung in Säcken die Rede, die man an Haken an die Decke hing, um die Urkunden vor Mäusefraß zu schützen. Außerdem werden Truhen und Schachteln genannt, in Freising sogar Schüsseln und Körbe, aber bezeichnenderweise keine Regale oder Schränke. Unter diesen Bedingungen war es sehr schwierig, das gewünschte Dokument herauszusuchen, wobei die Siegel durch die manuelle Hantierung zusätzlich stets der Gefahr ausgesetzt waren, beschädigt zu werden. Die mittelalterlichen Rückvermerke auf den Urkunden geben lediglich in Stichworten den Inhalt an, besitzen aber noch kein numerisches Kennzeichnungssystem.

Gut organisierte Kanzleiarchive machten sich deshalb daran, den Urkundenvorrat in einem Inventar zu erfassen. Ab dem beginnenden 15. Jahrhundert wurden solche Inventare immer häufiger, die sich in ihrem Titelbegriff "Inventar" von den artverwandten Kopialbüchern abgrenzen. Das Kopialbuch hatte zum Ziel, den kompletten Urkundentext zu bieten, damit man nicht mehr auf das Original zurückgreifen musste, während das Archivinventar nur eine regestenartige, knappe Inhaltsbeschreibung enthielt, die die Urkunde individualisieren und damit auffindbar machen sollte. Herzog Ludwig der Bärtige von Bayern-Ingolstadt (reg. 1413-1447) z. B. ließ kurz nach seinem Amtsantritt ab 1417 solche Inventare über die Dokumente im Turm zu Ingolstadt anlegen. Nun besserte sich auch die Aufbewahrungstechnik. Im Archiv des Herzogtums Landshut ist von Truhen, Laden, Kästen und Schachteln die Rede. Archivkästen (Archivschränke) sind die zukunftsweisende Aufbewahrungsform der Frühen Neuzeit.

Ein großes Problem stellte die Verweismöglichkeit vom Inventar auf das Dokument und umgekehrt dar. Es dauerte relativ lange, bis man eindeutige Litterierungs- bzw. Nummerierungssysteme entwickelte, die sich identisch auf dem Dokument und im Inventar fanden. Mit der Inventarisierung war auch eine "Ordnung" verbunden, da die Dokumente zunächst zu Inhaltsgruppen strukturiert und dann erst innerhalb der Gruppe chronologisch gereiht wurden. Auch Kopialbücher konnten sich zu Urkundeninventaren entwickeln, wenn der Urkunde wie dem Kopialbucheintrag eine eindeutige Bezeichnung beigefügt wurde.

Betreuung durch Archivare

Der letzte Schritt zu einem vollgültigen Archiv ist dann getan, wenn die personelle Betreuung durch einen eigenen Archivar sichergestellt ist. Für das Mittelalter ist in Bayern bislang kein Archivar namentlich bekannt geworden. Das herzogliche Archiv in München erhielt erst ab dem Jahr 1506 in Augustin Kölner (gest. 1548) seinen hauptamtlichen Leiter, sicherlich auch unter dem Eindruck, dass die Archive der bisherigen Teilherzogtümer zu einem Gesamtarchiv integriert werden sollten. Mit Augustin Kölner begann eine lange Reihe von herzoglichen Archivaren, die alle namentlich bekannt sind und in lückenloser Folge dem herzoglichen Archiv vorstanden. Für das Hochstift Würzburg schuf Magister Lorenz Fries (1489-1550) in über 20-jähriger Arbeit die erste, umfassende Archivordnung und –verzeichnung.

Literatur

  • Enno Bünz (Hg.), Lorenz Fries (1489-1550). Fürstbischöflicher Rat und Sekretär. Studien zu einem fränkischen Geschichtsschreiber (Schriften des Stadtarchivs Würzburg 7), Würzburg 1989.
  • Walter Goldinger, Geschichte des österreichischen Archivwesens (Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Ergänzungsband 5), Wien 1957.
  • Max Josef Neudegger, Bayerische Archivrepertorien und Urkundenregister im Reichsarchiv zu München von 1314-1812 (Geschichte der bayerischen Archive III b), München 1899/1900.
  • Arnd Reitemeier, Art. Archiv, in: Werner Paravicini/Jan Hirschbiegel (Hg.), Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Bilder und Begriffe. 2 Teilbände (Residenzenforschung 15/II), Ostfildern 2005, 256-257.
  • Joachim Wild, Die Fürstenkanzlei des Mittelalters. Anfänge weltlicher und geistlicher Zentralverwaltung in Bayern (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive in Bayerns 16), München 1983 (hier der Abschnitt: Archivierung und Archivrepertorium, 115-119).
  • Joachim Wild, Zur Geschichte der Archive von Hochstift und Domkapitel Freising, in: Hubert Glaser (Hg.), Hochstift Freising. Beiträge zur Besitzgeschichte (Sammelblatt des Historischen Vereins Freising 32), München 1990, 115-128.
  • Fritz Zimmermann, Die strukturellen Grundlagen der bayerischen Zentralarchive bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, in: Archivalische Zeitschrift 58 (1962), 44-94.

Weiterführende Recherche

Externe Links

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Empfohlene Zitierweise

Joachim Wild, Archivwesen (Spätmittelalter), publiziert am 04.04.2013; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Archivwesen_(Spätmittelalter)> (16.04.2024)