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Staatskirchenhoheit (19./20. Jahrhundert)

Aus Historisches Lexikon Bayerns

(Weitergeleitet von Staatskirchenhoheit (19./20. Jahrhundert))
Maximilian Graf von Montgelas (1759-1837) war von 1799 bis 1817 führender Minister Max I. Joseph. Unter ihm gelangte das bayerische Staatskirchentum zu seinem Höhepunkt. Fotografie eines Gemäldes. (Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv port-009383)
Titelblatt des sogen. Religionsediktes von 1818. (Gesetzblatt für das Königreich Baiern 1818, Sp. 149-180).

von Florian Sepp und Hartmut Böttcher

Aufsichtsrecht von Landesherren über das Kirchenwesen ihres Landes. Die staatliche Kirchenhoheit entstand schon in vorreformatorischer Zeit. Im Königreich Bayern wurde sie 1818 vor allem durch das Religionsedikt umschrieben. Dieses sah die staatliche Zulassung von Kirchen und Religionsgemeinschaften ebenso vor, wie die staatliche Aufsicht über die Kirchen. Die Aufsichtsgewalt erstreckte sich auch auf die rein geistlichen Angelegenheiten. Die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 schaffte die staatliche Kirchenhoheit ab.

Begriffsbestimmung

Unter dem Begriff der Staatskirchenhoheit versteht man eine dem Staat bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zugestandene äußere Aufsicht über die katholischen und die protestantischen Kirchen, die Ausfluss seiner souveränen Staatsgewalt war. Davon zu unterscheiden ist das landesherrliche Kirchenregiment, das nicht die Aufsicht über das protestantische Kirchenwesen, sondern die kirchenleitende Funktion des Souveräns als "summus episcopus" innerhalb der Kirchen umschrieb.

Die staatsrechtliche Lehre des Territorialismus, gemäß derer die Herrschaftsgewalt der Fürsten auch die Herrschaft über Kirche und öffentliche Religionsausübung umfasste, führte Kirchenhoheit und Kirchenregiment auf die Souveränität zurück. Beide Befugnisse waren daher kaum voneinander zu trennen. Vor allem im 19. Jahrhundert unterschied man unter Einfluss der Kollegialtheorie die iura circa sacra als Aufsicht des Souveräns über das Kirchenwesen allgemein und die iura in sacra als eigentliche kirchenregimentliche Befugnisse in Wahrnehmung der inneren Kirchenleitung und der obersten bischöflichen Gewalt durch den Landesherrn vor allem gegenüber den evangelischen Kirchen. Die iura in sacra wurden jedoch zunehmend auf eigene kirchliche Behörden oder Synoden übertragen.

Geschichtliche Entwicklung

Im 15. Jahrhundert begannen weltliche Fürsten, wie die Herzöge von Bayern oder die zollernschen Markgrafen in Franken, und Reichsstädte, intensiver die kirchlichen Verhältnisse ihrer Territorien zu kontrollieren. Dies äußerte sich in der Aufsicht über das kirchliche und klösterliche Vermögen, Maßnahmen gegen die Steuerfreiheit und den besonderen Gerichtsstand des Klerus sowie in Bemühungen zur Reform des kirchlichen Lebens. Probleme ergaben sich auch daraus, dass die Bischöfe seit der Bildung der geistlichen Staaten ihre Sitze grundsätzlich außerhalb der jeweiligen Territorien hatten. Obwohl es den Fürsten und Städten nicht gelang, die Bischöfe aus ihrer kirchenleitenden Funktion zu verdrängen, spricht die historische Forschung seit einigen Jahrzehnten unpräzise von einem "vorreformatorischen landesherrlichen Kirchenregiment", meint damit aber die Ausübung von Kirchenhoheitsrechten.

Im Zuge der Reformation übernahmen die protestantischen Fürsten auch die Leitung der Kirchen ihres Territoriums und übten so das landesherrliche Kirchenregiment aus. Die katholischen Herzöge von Bayern konnten im 16. Jahrhundert zwar ihre Kirchenhoheit weiter ausbauen. Die kirchenleitende Rolle der Bischöfe schrieben aber - nach einer Phase willkürlicher Eingriffe im 16. Jahrhundert - das Konkordat von 1583 und verschiedene Folgeverträge mit den bayerischen Bistümern fest.

Wie in anderen katholischen Staaten verschärfte sich auch im Kurfürstentum Bayern seit der Mitte des 18. Jahrhunderts im Gefolge der Aufklärung der staatliche Zugriff auf die Kirche. Ab 1759 griff die kurbayerische Gesetzgebung immer stärker in das Klosterwesen, die Frömmigkeitspraxis und die bischöfliche Jurisdiktion ein. Seinen Höhepunkt erlebte das Staatskirchentum ab 1799 mit den Reformen von Maximilian Joseph Graf von Montgelas (1759-1838).

1817/18 wurden dann die kirchlichen Verhältnisse im Königreich Bayern neu bestimmt. Maßgeblich war hierfür das Religionsedikt vom 17. Juni 1818, das eine Beilage zur bayerischen Verfassung von 1818 darstellte und die "äußeren Religionsverhältnisse" Bayerns regelte. Als Anlagen des Religionsedikts wurden am 22. Juli 1818 das Konkordat mit dem Heiligen Stuhl vom 24. Oktober 1817 und das Protestantenedikt als einfache Gesetze veröffentlicht. Obwohl die Unterordnung des Konkordats unter das Religionsedikt strittig blieb, bildeten sie zusammen mit dem Protestantenedikt den rechtlichen Rahmen des Kirchenwesens im Königreich Bayern bis 1918.

Die Ausübung der staatlichen Kirchenhoheit oblag seit 1806 dem Innenministerium. Zum 1. Januar 1847 entstand - nach Auseinandersetzungen um die Religionspolitik des Innenministers Karl von Abel (1788-1859) - das "Ministerium des Inneren für Kirchen- und Schulangelegenheiten". Diesem waren fortan auch die das protestantische Kirchenregiment ausübenden Konsistorien unterstellt.

Inhalte

§ 57 des Religionsedikts von 1818 umschrieb die Hoheitsbefugnisse des Landesherrn wie folgt: "Da die hoheitliche Oberaufsicht über alle innerhalb der Grenzen des Staates vorfallende Handlungen, Ereignisse und Verhältnisse sich erstreckt, so ist die Staatsgewalt berechtigt, von demjenigen, was in den Versammlungen der Kirchengesellschaften gelehrt und verhandelt wird, Kenntnis einzuziehen."

Die Staatskirchenhoheit umfasste neben dem allgemeinen Schutz und der Förderung der Religion (ius advocatiae) vor allem das Recht der Bestimmung der öffentlichen Religionsausübung und Privilegierung eines Bekenntnisses (ius reformandi) mit der Folge, dass Anderskonfessionelle die Möglichkeit hatten, das Land zu verlassen (negative Religionsfreiheit), sowie das Recht der eigentlichen Aufsicht über die im Lande zugelassenen Religionen bzw. Konfessionen (ius inspiciendi cavendi).

Ferner konnten neben den schon in der Verfassung anerkannten drei christlichen Konfessionen sowie den 1818 schon eingeführten Glaubensgemeinschaften neue Glaubensgesellschaften nur mit staatlicher Genehmigung tätig werden. Die verfassungsmäßig garantierte Religions- und Gewissensfreiheit umfasste nur die individuelle Glaubensausübung bis hin zur einfachen Hausandacht. Bereits ein Zusammenschluss mehrerer Familien war genehmigungspflichtig.

Im einzelnen unterschied das Religionsedikt drei Bereiche, die einer unterschiedlich intensiven staatlichen Kontrolle unterlagen:

  • Die inneren Kirchenangelegenheiten (§§ 50-61). Das Edikt garantierte, dass die "geistliche Gewalt in ihrem eigentlichen Wirkungskreise" von staatlichen Eingriffen frei sein sollte. Sie nahm nur "das königliche oberste Schutz- und Aufsichtsrecht" in Anspruch. Wesentliche Erscheinungen des staatlichen Aufsichtsrechtes waren vor allem das Placet (Vorbehalt, sich alle kirchlichen Erlasse nicht nur zur Einsicht, sondern auch zur Genehmigung vorlegen zu lassen, vgl. § 58 des Religionsedikts) und der Recursus ab abuso (Recht der Staatsangehörigen, bei Missbrauch geistlicher Gewalt kirchliche Verfügungen vom Staat überprüfen und ggf. kassieren zu lassen).
  • Die weltlichen Gegenstände (§§ 62-75), in denen sich die Religionsgemeinschaften nach den Gesetzen des Staates richten mussten. Die weltlichen Gegenstände umfassten u. a. die Vermögensverwaltung der Kirchen, das Erbrecht der Geistlichen und die Matrikelführung.
  • Die Gegenstände gemischter Natur (§§ 76-79), worunter alle Gegenstände fielen, "welche zwar geistlich sind, aber die Religion nicht wesentlich betreffen, und zugleich irgend eine Beziehung auf den Staat und das weltliche Wohl der Einwohner desselben haben". Hierunter fielen u. a. Gottesdienstordnungen, Prozessionen und weitere Andachten, Errichtung von Klöstern und Ordensgemeinschaften sowie die Sprengeleinteilung von Bistümern, Dekanaten und Pfarreien.

Ende 1919

Mit Inkrafttreten der Weimarer Verfassung am 14. August 1919 und der Garantie des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts (Art. 137 Abs. 3 WRV) endete die Staatskirchenhoheit.

Dokumente

Literatur

  • Walter Brandmüller (Hg.), Handbuch der bayerischen Kirchengeschichte. Dritter Band: Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Sankt Ottilien 1991.
  • Axel Freiherr von Campenhausen/Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht, München 4. Auflage 2006, 14-38.
  • Christoph Link, Staat und Kirche in der neueren deutschen Geschichte, Frankfurt am Main 2000.
  • Christoph Link, Staatskirchenhoheit. Religionsgesellschaftliche Autonomie und säkulare Gemeinwohlverantwortung im deutschen Staatskirchenrecht seit der Aufklärung, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 20 (1975), 1-42.
  • Hans Rall, Kurbayern in der letzten Epoche der alten Reichsverfassung 1745-1801 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 45), München 1952.
  • Helmut Rankl, Das vorreformatorische landesherrliche Kirchenregiment in Bayern (1378-1526) (Miscellanea Bavarica Monacensia 34), München 1971.
  • Ernst-Lüder Solte, Staatskirchenhoheit, Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht. Band III, Paderborn 2004, 583-585.
  • Heinrich de Wall, Kirchenhoheit, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Band IV. Tübingen 4. Auflage 2001, 1201.
  • Otto J. Voll/Johann Störle, Handbuch des Bayerischen Staatskirchenrechts, München 1985, 12-24.

Quellen

  • Handwörterbuch des Bayerischen Staatskirchenrechts, München/Berlin/Leipzig 2. Auflage 1914.
  • Anton Scharnagl, Bayerisches Staatskirchenrecht (Staatsbürger-Bibliothek 55), Mönchengladbach 1915.

Weiterführende Recherche

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Empfohlene Zitierweise

Florian Sepp/Hartmut Böttcher, Staatskirchenhoheit (19./20. Jahrhundert), publiziert am 10.09.2007; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: <http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Staatskirchenhoheit_(19./20._Jahrhundert)> (29.03.2024)